Die Protagonisten der DDR-Literatur

Andreas Petersell am 13.06.1996

Zwischen Selbstsicherheit und Selbstzweifel:
Findung und Wahrung der Identität in einer repressiven Gesellschaft
Die Protagonisten der DDR-Erzählprosa der 70er und 80er Jahre

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Wissenschaftliche Hausarbeit

Dieser Text entstand als Wissenschaftliche Hausarbeit zur Ersten Staatsprüfung für das Amt des Studienrats. Er wurde von Andreas Petersell in Berlin am 13.06.1996 unter dem Titel Zwischen Selbstsicherheit und Selbstzweifel: Findung und Wahrung der Identität in einer repressiven Gesellschaft. Die Protagonisten der DDR-Erzählprosa der 70er und 80er Jahre eingereicht. Die Hausarbeit wurde von der Prüfungskommission unter der Leitung von Prof. F. Hörnigk (Humboldt-Universtität zu Berlin) mit der Note “Sehr gut” (1,3) bewertet.

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Zur Auswahl der Prosawerke

Kapitel 1 - Abschnitt 01 Von den vier im Titel genannten Autoren sollen folgende Prosawerke Gegenstand eingehender Betrachtung sein:

  • Erich Loest: Es geht seinen Gang oder Mühen in unserer Ebene (1978)

  • Jurek Becker: Schlaflose Tage (1978)

  • Monika Maron: Flugasche (1981)

  • Christoph Hein: Der fremde Freund (1982)

1-02 Alle vier Romane liegen, was ihre Veröffentlichung betrifft, zeitlich dicht beieinander: sie erschienen nach der Ausbürgerung Wolf Biermanns (Nov. 1976). Die zeitliche Einordnung von literarischen Werken innerhalb eines (kultur-)politischen Rahmens wird genauso zu erklären sein wie der Hinweis auf "Veröffentlichung". Denn geschrieben wurde manches Buch viel früher. Was ein "Druckgenehmigungsverfahren" um Jahre verzögerte, stand oft noch mittelbar unter dem Eindruck der Ereignisse aus dem Jahr ´76 und deren Folgen. Wenn besagtes Verfahren auch verhinderte, erschienen die betroffenen Werke wie hier im Fall Becker und Maron in westdeutschen Verlagen. Ein intendierter Rezipient brach weg.

1-03 Fritz-J. Kopka hatte beim rückblickenden Lesen von Jurek Beckers Jakob der Lügner geäussert, dass ein Systemwechsel diesem Buch nichts anhaben könnte, um ironisch fortzufahren: “Eine ganz andere Frage ist, was daran DDR-Literatur ist. Nur die Tatsache, daß sein Autor in der DDR gelebt und es in der DDR geschrieben hat? Das könnte, das müßte genügen, aber man kann weiter überlegen. Becker wollte einen Film aus dem Stoff machen, konnte damit aber nicht bei der einzigen Filmgesellschaft im Staat landen, so schrieb er den Roman, typisch DDR.”1 - Was macht DDR-Literatur aus? Ist allein vom autonomen Text auszugehen oder ist sie untrennbar mit dem sozio-kulturellen Hintergrund "DDR-Gesellschaft" verbunden? Folgendes Rezensionsfazit über Volker Brauns Unvollendete Geschichte als lediglich “modernisierte Romeo-und-Julia-Geschichte” legt letzteres nah:

Man sieht: mit anderen Vorzeichen (konfessionelle oder soziale Unterschiede) ist das alles schon mal dagewesen. Trivial, banal? Zweifellos. Spielte die Geschichte nicht in der DDR, hätte sich kein Verlag in der Bundesrepublik bereitgefunden, sie zu drucken. Diese unvollendete Geschichte ist vollendeter Edelkitsch.2

So will diese Arbeit im 2. Kapitel die Frage anreißen, was die Rahmenbedingungen für eine spezifische DDR-Literatur waren und welche Rolle innerhalb der DDR-Gesellschaft die Autoren dabei innehatten.

1-04 Der Untertitel Findung und Wahrung…​ usw. mag suggerieren, dass die Romanhelden jener Zeit gegenüber dem Anspruch der Gesellschaft, sich unterzuordnen, ihre Individualität zwar verteidigen, dies aber nur nach gescheitertem Kampf durch den Rückzug aus dem öffentlichen Leben, insbesondere der Arbeitswelt, erreichen. Ob dieses angedeutete Bild des Kämpfertyps um der eigenen Identität willen für alle Protagonisten aufrechterhalten werden kann, wird in der Besprechung der vier Prosawerke näher zu untersuchen sein.

1 Kopka, Fritz-Jochen: Von der Unübertrefflichkeit des ersten Buches. Jurek Becker: »Jakob der Lügner«. In: Verrat an der Kunst? Rückblicke auf die DDR-Literatur. Berlin, Weimar 1993

2 van Ingen, Ferdinand: Volker Braun: Unvollendete Geschichte. In: Deutsche Bücher, Nr. 3/1978, Amsterdam (Editions Rodopi), S. 268

Die Literatur in der DDR von der Biermann-Ausbürgerung bis zu Beginn der 80er Jahre

Kapitel 2 - Abschnitt 01 Man könnte sich der Frage, was DDR-Literatur ausmacht, über den Autor nähern. Ein Ansatz wäre o.g. Frage Kopkas, ob DDR-Literatur nicht einfach Texte von in der DDR lebenden Autoren waren. Nun sahen sich in den Jahren nach den Biermann-Protesten viele Künstler unter den verschiedensten Umständen in der Bundesrepublik wieder. Unter ihnen Schriftsteller wie Thomas Brasch, H.-J. Schädlich, Klaus Schlesinger, Sarah Kirsch, Günter Kunert u.v.a.. Reiner Kunze war durch die Veröffentlichung seiner Wunderbaren Jahre im S. Fischer Verlag zwei Monate vor dem Biermannkonzert der erste, der im April 1977 die DDR in Richtung Westen verließ. Im gleichen Jahr ging auch Jurek Becker. Sein Umstand der Ausreise verdient Beachtung insofern, als dass er der erste Künstler war, der als 'DDR-Bürger' mit einem mehrjährigem Visum in die Bundesrepublik kam.

2-02 Auf dem 8. Schriftstellerkongress 1978 waren von den Erstunterzeichnern des Protestbriefes gegen die Ausweisung Biermanns nur Volker Braun und Stephan Hermlin anwesend. Viele der Biermann-Sympathisanten blieben fern: entweder waren sie nicht geladen, oder zogen ihr Mandat zurück, oder waren wie Heiner Müller kein Mitglied des Verbandes 1 mehr. So war es Hermlin, der sich gegen Konrad Naumanns Ausfälle gegen die Biermann-Sympathisanten (“bürgerliche Künstler mit entsprechendem Geldkonto”) wandte. Doch wichtiger als die tagespolitischen Querelen waren die Passagen, in der sich der “DDR-Schriftsteller in spätbürgerlicher Tradition” zur deutschen Literatur äußerte:

Ich bin ein Schriftsteller der DDR, da ich hier lebe und arbeite…​. Aber so bin ich denn ein deutscher Schriftsteller, ich sei nur immer wer ich sei, verbunden mit allem, im Positiven wie im Negativen, was deutsch geschrieben wurde und deutsch geschrieben wird…​. Und weiter: Die Existenz einer Literatur ist nicht deckungsgleich mit der Existenz von Staaten. …​ Die DDR-Literatur ist nicht zu bestreiten; sie ist die hier entstandene und entstehende deutsche Literatur.2

2-03 Doch was wäre dann mit den Autoren, die schon 1978 in der Bundesrepublik waren und noch folgen sollten? Zehn Jahre später versteht sich auch Monika Maron durch eine gleiche deutsche Geschichte und Kultur geformt: “Wollte ich die Existenz von zwei deutschen Literaturen zugeben, müßte ich diese jeweils noch einige Male aufteilen, denn so fremd wie mir einige DDR-Autoren sind, so verbunden fühle ich mich einigen Schriftstellern aus der Bundesrepublik, der Schweiz oder Österreich.”3 So kommt Peter Peters zu folgender Definition des Begriffs 'DDR-Literatur': “In ihrer allgemeinsten Bestimmung ist der DDR-Literatur ein spezifischer Bezug auf ein bestimmtes gesellschaftliches System eigen, das der Deutschen Demokratischen Republik, welcher sich als auch als Rück- und Traditionsbezug einstellen kann.”4

2-04 Eine ähnliche Einteilung (unabhängig vom Wohnort, aber mit 'DDR-Prägung') nimmt Wolfgang Emmerich5 1983 eingedenk der Inhomogenität der DDR-Literatur zur Fokussierung seiner Betrachtungen vor. Er glaubt im Gefolge der Biermann-Ausbürgerung drei Tendenzen in der DDR-Literatur zu erkennen:

  1. “eine …​ halsstarrig am überlieferten Fundus politisch und ästhetischer Wirklichkeitsinterpretation festhaltende Literatur (z.B. Dieter Noll),

  2. eine jetzt im Westen angesiedelte Literatur, die ihre DDR-Prägung zu vergessen sucht und auf dem Weg ist, ästhetisch wie politisch uninteressant zu werden (z.B. R. Kunze), und

  3. eine Literatur, die unter Schmerzen an der Aufgabe festhält, neue Erfahrungen kritisch-reflektiert zu verarbeiten und die dem angemessenen Darstellungsmittel zu erproben.”

2-05 Die Unzulänglichkeiten einer solchen Einteilung räumt Emmerich mit dem Hinweis auf z.B. Erwin Strittmatter und Hermann Kant ein. Auch darf man annehmen, dass schon vor 1976 diese Tendenzen sich abzeichneten. Doch der wohl wichtigste Aspekt ist der, dass diese “Schmerzen” immens zunahmen. Kann man doch davon ausgehen, dass ein Vertrauen in die Partei als Motor von Veränderungen nach derer Einschüchterungs- und Repressionspolitik verspielt war.

2-06 Thematisch läßt sich in der zweiten Hälfte der 70er Jahre eine Hinwendung zur Problematisierung des Alltags erkennen. In kritischer Subjektivität vermitteln die Helden ihre eigenen Erfahrungen mit dem real existierenden Sozialismus, jenseits aller propagierten 'objektiven Gesetzmäßigkeiten'. So sieht Sigrid Stahl als vorherrschendes Motiv der Literatur der 70er Jahre das Rechenschaftsmotiv: “die Frage, was aus dem einzelnen Menschen nach mehr als zwanzig Jahren 'Aufbau des Sozialismus' geworden ist.”6 Dieses Motiv ist auch den vier zu analysierenden Prosawerken gemein. Der DDR-Literaturkritiker Hans Kaufmann schrieb moderat:

…​die Konfrontation mit den Realitäten wirkt sich jedoch auch - und nicht nur vereinzelt - als Ideal- und Perspektiveverlust aus. Erwartungen stoßen sich an der Prosa des Lebens und stellen sich ihr als ein Poetisch-Innerliches, Unverwirklichtes gegenüber. […​] in Sicht kommen weniger die Chancen des Handelns als Einwirkungen der äußeren Welt auf die Befindlichkeit der Individuen. Auch diese Blickrichtung geht zumeist von sozialistischen Positionen aus - wenn auch nicht immer in voller Identität mit denen der Arbeiterklasse und ihrer Partei.7

Doch letzteres, die “Nichtidentität mit der Partei” bedeutete nicht mehr und nicht weniger als dass das Gros der Autoren als Sozialisten die Utopie einer gerechteren Gesellschaft in der DDR-Gesellschaft mit ihrer 'realsozialistischen' Ausprägung nicht mehr aufgehoben wußten. Die DDR als Referenz für die Utopien der Autoren brach weg. Hier setzt der Vorwurf Emmerichs an, der den Autoren vorwarf, trotz der erkennbaren Stagnation und Deformation des 'realen Sozialismus' vom “Sozialismus schlechthin” nicht abgelassen zu haben und "im herrschenden Diskurs befangen blieben".8

…​sie konservierten die Epochenillusion vom »wahren Sozialismus«, indem sie sein Bild in den Schrein der Utopie einschlossen: also dessen, das keinen Ort hat, aber doch sein soll. Je befleckter die Praxis, desto reiner die Utopie…​9

2-07 Helga Königsdorfs Worte mögen hier als Illustration aus Autorensicht dienen:

Wir akzeptierten es nicht, das System das uns umgab, aber wir liebten die Utopie, die es einst auf die Fahnen geschrieben hatte. Und wir hatten eine Hoffnung wir konnten irgendwie dahin gelangen […​]. Wir wollten das System erschüttern, um es zu verändern, aber nicht das Land preisgeben, mit dem sich unsere Utopie verbunden hatte. Je schmerzhafter die Differenz zwischen Traum und Realität wurde, um so stärker die Verpflichtung, sich einzumischen. Gerade dieser Leidensdruck wurde die Quelle für unsere Arbeit, in der Trauer zunahm, kaum noch Übermut. Und diesen Kummer teilten wir mit unseren Lesern: Nicht allein die Ersatzfunktion, die Literatur hatte, erklärt diese Rolle in diesem Land, sondern genau diese Verbundenheit.10

2-08 Diese Verbundenheit, nämlich die sozialistische Utopie “als gemeinsames Drittes zwischen Autor und Leser” faßt Emmerich im Terminus “Sinngebungsliteratur” zusammen. In den Augen Julia Hells eine bloße Reduktion auf einen “…​legalitimizing discourse…​”11 Sie stellt Emmerichs Neueinschätzung der DDR-Literatur (früher betonte er das kritische Potential genau dieser Literatur) in den größeren Zusammenhang der “Intellektuellendebatte” seit 1990. Sie verweist im Ergebnis ihrer Beschäftigung mit Christoph Heins fremden Freund auf den Umstand, dass es außerhalb der Macht keinen Diskurs gibt. Sie zitiert Klaus-Michael Bogdal:

Bohrer, Schirrmacher und Greiner wollen im Augenblick des Schreckens über die desaströsen Folgen einer historischen Epoche suggerieren, dass es einen Diskurs außerhalb der Macht gebe. Deshalb dürfen vor allem die, die den Zusammenhang von Macht und Schreiben bis in die feinsten Verästelungen aufzuspüren vermögen, so dass sich auch der Leser im Westen darin wiederfindet (Christa Wolf, Christoph Hein, Heiner Müller) nicht mehr sprechen.12

2-09 Schreiben im Dunstkreis der Macht. Marcel Reich-Ranicki bemüht nicht einmal lakonische Begriffe wie “Sinngebungsliteratur”. Ihm ist die einfache Tatsache, dass die Autoren in der DDR lebten und dort sogar noch publizierten, Beweis genug, dass sie “Repräsentanten des Staates…​ und Mitverantwortliche dessen waren, was dort geschehen ist.”13 Doch auch Uwe Saeger als Autor sieht die in der DDR publizierte Literatur “als politisch verstrickt”. Erst einmal durch die Zensur gekommen, “und damit - gedruckt also und Literaturmacher somit - waren man und man verstrickt, die da und der da saßen in einem Boot, zogen am gleichen Strick, kamen auf den gleichen Hund - und glaubten sich doch so verschieden wie Himmelsstürmer und Kriechtiere.” Sarkastisch auch seine ihn nicht ausschließende Meinung vom DDR-Schriftsteller:

Man glaubte eine gewisse Wertigkeit zu haben, denn man fühlte sich irgendwie bestätigt als ein anwesendes Fragezeichen, als geduldeter Possenreißer.14

Die Rolle des Autors in der DDR-Gesellschaft15 und dessen Selbstverständnis verdienen also nähere Betrachtung.

2-10 1959 heißt es in einem Lexikon über die aus dem Exil zurückgekehrten Schriftsteller: “Sie beteiligten sich am demokratischen Neuaufbau und der demokratischen Umerziehung des Volkes und wurden in ihrer schriftstellerischen Tätigkeit vom Arbeiter-und Bauernstaat großzügig unterstützt.”16 Am Festhalten der erzieherischen Funktion von Literatur hatte sich seitens der SED in den 70er Jahren so viel nicht geändert. “Kultur und Kunst vermögen sehr viel beizutragen, sozialistische Überzeugungen zu festigen und in den Herzen der Menschen das reine Feuer kommunistischer Ideale zu entzünden.”17 So wußte Erich Honecker im Mai 1976 auf dem 9. Parteitag der SED zu berichten. Fünf Jahre später heißt es weniger glühend, dass Kunst und Literatur vieles hervorgebracht hat, “was Teil unserer sich ständig verändernden sozialistischen Wirklichkeit ist und diese Veränderung zugleich bewirkt.”18 Die Literatur als Gestaltungsmedium von DDR-Realität, als Initiator von Veränderungen. Wenn der Staat der Literatur erst einmal diese Fähigkeit zusprach, galt es andererseits Literatur zu verhindern, die ihm nicht opportun erschien.

Da der DDR-Staat die Intellektuellen und die Literatur zu praktisch verantwortlichen Trägern der Gesellschaft erklärt hatte, exekutierte er dieses Programm hier negativ. Eine abweichende Position erschien ihm unmittelbar von praktischer Bedeutung. Aus seiner Gleichung, dass die Produktion von Weltanschauung dasselbe sei wie praktizierte Manipulation, also in den Köpfen des Volkes erfolgreich verankert war, ergab sich nur eine Konsequenz: Über verworfene Literatur durfte nicht diskutiert, sie mußte unterbunden werden.19

2-11 Die Wichtigkeit, die der Staat der Literatur beimaß, zeigte sich den Autoren am 'persönlichsten' durch die Zensur. Wie anders als ein Indiz für die Bedeutsamkeit ihrer Werke sollte sie sich sonst interpretieren lassen? Sie schrieben in der Gewißheit, langfristig bewußtseinsbildend zu wirken. “Immer wieder waren Bücher imstande, Unruhe zu erzeugen oder in gesellschaftliche Auseinandersetzungen einzugreifen.” meinte Jurek Becker 20 rückblickend. Dass sie aber diese Rolle des Eingreifens nicht ganz freiwillig innehatten, war den Schriftstellern wohl bewußt. Was es für sie bedeutete, im “schlechtbesetzten Chor der öffentlichen Meinung den Part des Journalisten mitsingen zu müssen”21, schilderte Christoph Hein in einem Gespräch 1990:

Man wurde von zwei Seiten bedrängt, und die Literatur war von zwei Seiten bedroht - vom staatlichen Zensor und von den Erwartungen des Publikums. Dem Druck des Staates konnte man ausweichen, der war so eindeutig und offensichtlich. Aber da gab es die Gefahr, dass man sich im Widerstand verkrampft und blödsinnig verbeißt; wie der Lessing in den Dummkopf Goeze, auf den er Jahre vergeudet hat. Dem Druck des Publikums hingegen konnte man sich kaum entziehen. Die Leser wollten hören, wie ich dem Honecker das Messer in den Leib stoße. Gefragt war nicht nur der kritisch-engagierte, sondern der extrem politische Schriftsteller. Und das ist eine Gefahr fur die Literatur. Ein Proust hatte keine Chance in der DDR.22

2-12 Welche Auswirkung diese Art der Lesererwartung als Folge der Ersatzfunktion von Literatur haben konnte, sieht der Lyriker Uwe Grüning in einer zornigen Rückschau auf die DDR-Literaturgesellschaft folgendermaßen: der “…​ Text hatte drei Autoren: den Schriftsteller, den Zensor und den Leser. Die Textleistung dieser drei war unterschiedlich und wechselte mit der zensoralen Wetterlage. Dabei mochte es vorkommen, dass ein Autor gar keinen Text zwischen den Zeilen geschrieben hatte: Die Deutungssucht von Zensor und Leser brachte einen solchen Text unweigerlich hervor.”23 Ob dem “unweigerlich” so war, wenn der Leser erst einmal einen Text in die Hand genommen hatte, sei dahingestellt. Auf die “fatalere Folge”, dass der Leser ein Buch immer in die Hand nahm (oder liegen ließ) mit dem Wissen, es ist ein Buch in Reaktion auf die Zensur, wies Jurek Becker hin:

Jedes Buch war entweder erlaubt oder verboten, etwas Drittes gab es nicht. Selbst wenn ein Autor etwas schreiben wollte, was die politische Zensur nicht berührte…​, mußte er mit dem Verdacht fertig werden, dass er es nur deshalb tat, um der Zensur aus dem Weg zu gehen. Das ist ja eine der fatalsten Folgen der Zensur: dass alle nicht verbotene Literatur mit dem Geruch existieren muß, erlaubt zu sein.24

2-13 So sind dann Stimmen motiviert, die die Vermittlung von Inhalten zur wichtigsten Daseinsberechtigung des DDR-Textes machen. “Andere Aspekte des Schreibens wie …​ Leichtigkeit oder Kunstsinn oder Phantasie hatten ihre Bedeutung vor allem darin, dass sie das Eigentliche zur vollen Geltung bringen sollte, das Anliegen.”25 In einer Gesprächsrunde von DDR-Literaturkritikern fiel der Satz “Ein vergleichsweise massenhaftes Publikum hat diese Literatur als »Lebenshilfe« angenommen.”26. Dies zeigt, (außer dass es im Staat keine anderen Betätigungsfelder für 'Lebenshilfe' gab), dass obige Folgen der Zuweisung einer “sozialpädogischen oder sozialaktivierenden Aufgabe”27 an den Schriftsteller erkannt und zu einem gewissen Grad sanktioniert wurde. Antonia Grunenberg schrieb in Bezug auf das Erscheinen von Heins Der fremde Freund, “dass das in der DDR, deren Leserschaft trotz Generationswechsel und literarischen Neuerungen noch immer auf das Niveau der Lebenshilfeliteratur und der positiven Helden eingeschworen ist, als Provokation aufgegriffen wird…​.”28 Im Kapitel über Christoph Heins Buch wird es zu untersuchen sein, ob die Schwierigkeiten in der Rezeption die gesamte Leserschaft betraf, oder nur einige wenige innerhalb der DDR-Literaturkritiker.

2-14 Ein wichtiger Aspekt darf bei der Fragestellung “Was ist DDR-Literatur?” nicht vergessen werden: Nämlich dass die westdeutsche Art der Rezeption von DDR-Literatur indirekt das “Wirkungs-Prinzip” derselben in den Vordergrund stellte und die “Literatur” darüber vergaß. Hinweisend auf fehlende Öffentlichkeit rief Monika Maron aus:

Mich überkommt beim Schreiben manchmal die unbezähmbare Lust, etwas ganz deutlich, ganz klar und eindeutig auszusprechen, nur weil ich es sonst nirgends lesen kann. Das sind dann die Stellen, die von meinen Lesern hier am gierigsten gelesen werden, von den West-Rezensenten am häufigsten zitiert, und die mir später in der Regel am wenigsten gefallen.29

2-15 So sieht Karl Corino in Flugasche in erster Linie eine Art Dokumentation aus einer DDR-Zeitungsredaktion, denn “Hermann Kants Impressum war eher Desinformation…​ »B. ist die schmutzigste Stadt Europas«, so müßte es heißen. Und was wird daraus? Ein Parteiverfahren und eine Kündigung.”30 Von einem schmerzhaften Entwicklungsprozeß der Protagonistin erfährt der Vorabinformierte nicht. Auch nicht, dass an dessen Ende die Kündigung Ergebnis des Entwicklungsprozesses ist, sie also von ihr aus geht.

2-16 Ein wenig subtiler und doch frei von jeder Oberlehrerhaftigkeit bedauert Heinrich Mohr, dass Loest “der brisanten Figur des Huppel (Kollege und Genosse an der Seite Wülffs in Es geht seinen Gang…​ - d. A.) kaum Entfaltung gegönnt hat. Wo doch gerade sie den Dialog mit der tabuisierten und unverstandenen Geschichte ermöglichen könnte…​ das hätte einen anderen Roman gegeben, der in der DDR kaum hätte erscheinen können.”31 In der Tat ist Wolfgang Leonhards Die Revolution entläßt ihre Kinder dort nie erschienen. Pikanterweise ist die Figur des Huppel genau die Figur, an die sich auch die offizielle DDR-Kritik stieß.

2-17 Einen selbstkritischen Blick auf die Arbeitsweise gibt ein Rezensent von Jurek Beckers Buch Schlaflose Tage, das “von einer ruhigen Entschiedenheit und Klarheit ist, die im übrigen auch jenes andere, oft problematische Verfahren westlicher Rezensenten beim Umgang mit Ost-Literatur überflüssig machen: das Zwischen-den-Zeilen-Suchen nach oppositionellem Hintersinn…​”32

2-18 Lakonisch und sarkastisch heißt es bei Thomas Brasch zu einem Teil der westdeutschen Literaturkritik:

…​seit ich in diesem Teil Deutschlands lebe, stelle ich immer häufiger fest, dass die Bücher von einem Teil der Kritik auf merkwürdige Weise rezipiert werden, als ei-ne Art Eingeborenenliteratur, die in einem fremdartigen Dschungel spielt und ihre Besonderheit darin hat, dass sie die Häuptlinge des Stammes anbellt, vergöttert oder ihnen listig ans Schienbein tritt.33

Parallelen bei der Beurteilung von Literatur in Ost und West: nur dass das 'Dschungelmotiv' in der DDR obsolet war und die Betragensnoten von den “Expertenteams der Verlage”34 und den Lesern vergeben wurden. Nicht allen westdeutschen Literaturwissenschaftlern kann man vorwerfen, dass der ideologiekritische Ansatz mit dem “wir-haben-es-ja-schon-immer-gewußt-Blick” vordergründigste Motivation war. Bei Sigrid Stahls Auseinandersetzung mit den Protagonisten der DDR-Literatur kommt der Literatur als Lebenshilfe und Medium der Einflußnahme ein großes Gewicht zu: “Wenn man die Wichtigkeit berücksichtigt, die der Literatur von seiten der SED beigemessen wird, erhält gerade die Verweigerung von Schriftstellern eine besondere Bedeutung, weil sie durch ihr öffentliches Nachdenken als Multiplikatoren wirken können.”35 Wie fragwürdig es ist, “Literatur auf Mut hin abzuklopfen”, macht Christoph Hein deutlich:

Mut ist …​ keine literarische Kategorie. Ich weiß nicht, ob Proust feige oder mutig war, das ist völlig belanglos. Folgt man dem wenigen, was man über Shakespeare und Moliére weiß, waren sie nicht allzu mutig. Das ist eine moralisch-persönliche Haltung, aber keine literarische Frage. Man klopft nun die DDR-Literatur auf “Mut” ab, und dann fallen plötzlich Personen wie die Anna Seghers durch diesen Raster; das wird dann albern.36

2-19 Über das damalige Selbstverständnis als Künstler in der DDR schenkte Wolf Biermann einem neuen Aspekt Achtung, nämlich “der familiären Verklammerung mit den Unterdrückern”.

Wir waren verfitzt, verfilzt und hochverschwägert mit unseren Widersachern. […​] Margot Honecker …​ suchte mich heim in meiner Bruchbude. »Wolf, komm zur Vernunft! Hör auf mit solchen Liedern! Das geht zu weit!…​ « […​] Und so redeten wir miteinander, …​ bis aufs Blut zerstritten, aber Familie…​37

Dies ist eine Spielart und Teil dessen gewesen, was Hans-Joachim Maaz als eine wichtige Besonderheit des Lebens in der DDR ausmachte: die Infantilität.

Ein ganzes Volk wurde in ewiger »Kindheit« gehalten …​ Der Staat war der große, allwissende, immer recht behaltene, autoritäre, alles bestimmende Vater. Gegen den Staat und seine Entscheidungen gab es praktisch keine Rechtsmittel…​ Die Mutter (Partei) dominiert und beherrscht den Vater (Staat), der seine Depotenzierung dann mit besonderen Strenge an den Kindern (Volk) ausläßt. In der Tat war uns ja das Eingaberecht »gewährt«, und wenn wirklich mal zugunsten eines Bürgers entschieden wurde, war es in der Regel die Partei, die staatliche Entscheidungen korrigierte.38

2-20 In diesem Zusammenhang müssen auch die Rezensionen des “autoritären” DDR-Literaturkritikers Werner Neubert eingeordnet werden. Günter Kunert nahm zu dessen Methoden der Literaturkritik (speziell zu Werner Heiduczeks Tod am Meer und Erich Loests Es geht seinen Gang…​ ) Stellung. Neuberts Urteil sei ein amtliches, kein literaturkritisches:

Heiduczek hat angesichts der 'Menschheitsrettung' 'Geschichtchen ausgepreßt' - die erniedrigende Vorstellung der Defäkation ist beabsichtigt: Speien, sich selbst bespeien, 'Geschichtchen auspressen': damit ist der Autor in eine demütigende Kinderposition versetzt und der Rezensent in die des Erziehungsberechtigten (ältester Schule).39

2-21 Doch blieben Ausfälle dieser Art in der DDR-Literaturkritik die Ausnahme. Die mal mehr oder weniger subtilen Vorgehensweisen des Staates blieben auf die in “ewiger Kindheit gehaltenen” nicht ganz wirkungslos. So berichtete Monika Maron über DDR-Bürger, die sich, auf dem Weg zu ihren Verwandten in die Bundesrepublik befindend, wohlwollend und voller Dankbarkeit über die Polizei geäußert hatten. “…​ sogar eine schöne Reise habe man ihnen gewünscht, nein wirklich…​. Die gesetzliche Rechtlosigkeit ist so weit verinnerlicht, dass das Zugeständnis minimaler Bürgerrechte als bedankenswerte Gnade empfunden wird.”40

2-22 Diese erwähnten Bruchstücke vergangener DDR-Realität sollen hier den Begriff repressives System, wie er in dieser Arbeit Verwendung findet, illustrieren. Das ersetzt die umfangreiche Konkretisierung des Begriffes, die Schilderung aller Konsequenzen, die sich aus der Tatsache ergeben, dass die DDR als Ort des Geschehens keine parlamentarische Demokratie mit Gewaltenteilung war. In der Auseinandersetzung der Protagonisten mit ihrer Umwelt wird das hemmende Moment der Gesellschaft in allen zu behandelnden Romanen thematisiert.

“Repression im sozialpsychologischen Sinne heißt Unterwerfung von Menschen unter den Willen Mächtiger und Anpassung an festgelegte Normen. Folgen solche Normen nicht mehr natürlichen Prozessen, sondern werden von wirtschaftlichen, militärischen oder ideologischen Interessen dominiert, sind massenweise Unterdrückung natürlicher Bedürfnisse und normaler menschlicher Empfindungen die Folge.”41

2-23 Zwischen Selbstsicherheit und Selbstzweifel: Findung und Wahrung der Identität der Protagonisten. Die Identität des Menschen mit sich selbst, der Glaube an einen statischen Kern des Menschen soll bei der Betrachtung der vier Protagonisten (Ingenieur Wülff, Lehrer Simrock, Journalistin Nadler und der Ärztin Claudia) besondere Berücksichtigung finden. Die “Identität finden” impliziert, dass sie nicht bei jedem Protagonisten vorausgesetzt wird. Sie zu “wahren” verlangt nach der Erklärung, gegen wen und was sie gewahrt, behauptet werden muß. Mit Blick auf das Protagonistenensemble ergibt sich eine weitere Schwierigkeit: von welchem Menschen- bzw. Persönlichkeitsverständnis ist bei der Suche nach Identität, so sie denn unterstellt wird, auszugehen?

2-24 Peter Peters kritisiert Sigrid Stahls 1984 unternommenen Versuch der Subjektbeschreibung:

Statt zu reflektieren, was das Subjekt denn sei, das sich in den analysierten Texten den gesellschaftlichen Zusammenhängen immer entschiedener verweigert, wird es als Individuum vorausgesetzt, das in seiner Verweigerung Authentizität erfährt. Da an einer Subjektkonzeption allein festgehalten wird, in der ein sich selbst gewisses Ich der objektiven Welt gegenübersteht, wird ein mechanischer Bedingungszusammenhang zwischen gesellschaftlichem System und literarischem Werk behauptet.42

Der Terminus Subjekt ist seines Erachtens noch immer ein “diffuses Wort”, denn “es bezeichnet den Menschen als einzelnes Individuum ebenso wie ein überindividuelles Gesellschafts- und Geschichtssubjekt.” Mit dem Hinweis, dass die marxistisch-leninistische Philosophie, und mit ihr die DDR-Literaturwissenschaft, das Subjekt mit dem Individuum identifiziert hat und argumentativ der Gesellschaft unterstellte, - und somit das Verhältnis des Ichs zum Kollektiv als Hierarchie auflöste - , konstatiert Peters, dass die Autoren darauf mit der Darstellung des Kollektivs als Bedrohung des Subjekts reagierten. Das Kollektiv wurde mehr und mehr in Frage gestellt. Ziel seiner Arbeit ist 'lediglich' die “unterschiedlichen Positionen von Autoren in ihrer Behandlung der Subjektfrage vorzustellen, um so ein Spektrum entstehen zu lassen, in dem die Entwicklung und Tendenzen der DDR-Literatur insgesamt sichtbar werden.”43

2-25 Diese Arbeit wird den Subjektbegriff nicht aufgreifen, sondern vom einzelnen Individuum ausgehen und bedenken, inwieweit es sich einer besonderen Individualität, d.h. der Heraushebung aus der Masse der Individuen, bewußt ist 44. Eine These soll sein, dass je weniger ein Mensch sich als ein Individuum begreift, d. h. je weniger er an die Einmaligkeit und Unteilbarkeit seiner Person glaubt, desto geringer wird die Möglichkeit für ihn, zu einer Identität mit sich selbst zu finden. Für ein Spektrum derart, dass eine Tendenz in der Gestaltung des Verhältnisses »Ich - Kollektiv« für die gesamte DDR-Literatur erkennbar wird, sind die vier Werke nicht ausreichend. Sie repräsentieren nur einen relativ kurzen Ausschnitt und lassen z. B. die jungen, “hineingeborenen” Autoren unberücksichtigt.

2-26 Mit dem Ende der DDR werden die Werke der DDR-Literatur als ein “endgültiges abgeschlossenes Kapitel in die Geschichte eingehen.” (Wittstock) Liegt hier die Betonung der DDR-Literatur auf ihre Abgeschlossenheit, sieht Bernd Hüppauf sie “verblassen”:

Das gilt gerade für die kritische Literatur. In dem Maß, in dem sich der »real existierende Sozialismus« aus den ökonomischen, politischen und mentalen Bedingungen der Gegenwart hinausbeförderte, gewann auch die Literatur, die sich an seiner Wirklichkeit abarbeitete, anachronistische Züge. Mut zum Widerstand verdient Achtung und wird in die Geschichtsbücher eingehen, qualifiziert aber noch nicht in ein Kapitel in der Literaturgeschichte.45

Ob der Pessimismus begründet ist, wird sich - durch die literarischen Werke selbst - zeigen. Warum er sich als unbegründet erweisen könnte, erklärt Hüppauf eigentlich selbst. “Was bei der Lektüre von Literatur bisher mitgedacht wurde, nämlich die gesellschaftlichen Verhältnisse im Sozialismus, gehört nicht mehr zum Konstitutionsprozeß des Lesens. …​ Die Texte der DDR-Literatur sind heute andere Texte als vor dem Fall der Mauer.”46 Das Schlußwort dieser Einleitung bleibt Jörg Magenau vorbehalten:

Es ist symptomatisch, dass auch die Fürsprecher eines verletzlichen, zu verteidigenden »Wesens« oder »Kerns« der Kunst nicht umhin können, der Literatur eine Bestimmung zu verleihen, wollen sie nicht zu Verteidigern des L´art pour l´art werden. Zur Bestimmung der Kunst wird deshalb die Zwecklosigkeit auserkoren. Kunst müsse, so heißt es, gegen alle Anmaßungen politisch-moralischer Utilitarismen geschützt werden. Und das ist wahr: der Kunst dürfen keine Zwecke von außen gesetzt werden, denn sie ist autonom. Kunst ist per se ein Gegenmodell zu ökonomischem und politischem Utilitarismus. Doch muß man deshalb der Kunst verbieten, sich selbst Zwecke zu setzten? Engagement - und andere Verbote sind ihrerseits vormundschaftliche Anmaßung und Angriff auf die Autonomie der Kunst. Wenn Kunst frei sein soll, muß sie auch die Freiheit zur politischen Intervention haben. Kunst ist vielfältiger, als die Verteidiger ihres reinen »Wesens« gerne wahrhaben möchten.47

1 vgl. Kleinschmidt, Harald: »Es werden uns noch ganz schöne Hummeln um die Ohren fliegen« Zum VIII. Schriftsteller-Kongreß der DDR. In: Deutschland-Archiv, H.7/1978, Köln 1978 und Jäger, Manfred: Kultur und Politik in der DDR. Ein historischer Abriß. Köln 1982, S. 163

2 Zit. n.: Jäger, Manfred, s. Fußn. 3, S. 181

3 Maron, Monika: Geformt durch die gleiche Kultur. In: ZEIT-Magazin, Nr.45/1987

4 Peters, Peter: Ich Wer ist das. Aspekte der Subjektdiskussion in Prosa und Drama der DDR (1976-1989), Frankfurt/M. 1993, S. 7

5 Emmerich, Wolfgang: Der verlorenen Faden. Probleme des Erzählens in den siebziger Jahren. In: Hohendahl/Herminghouse (Hrg): Literatur der DDR in den siebziger Jahren, Frankfurt/M. 1983, S. 176

6 Stahl, Sigrid: Der Ausbruch des Subjekts aus gesellschaftlicher Konformität. Frankfurt/M. 1984, S. 5

7 Kaufmann, Hans: Zur DDR-Literatur der siebziger Jahre. In: ders.: Über DDR-Literatur, Beiträge aus 25 Jahren. Berlin, Weimar 1986, S. 149

8 Emmerich, Wolfgang: Status melancholicus. Zur Transformation der Utopie in der DDR-Literatur. In: Literatur in der DDR, Rückblicke, Sonderband Text + Kritik, Hrg. Heinz Ludwig Arnold und Frauke Meyer-Gosau, München 1991,S. 239

9 ebd.

10 Zit. n.: Bark, Joachim: Erzählliteratur in der DDR (1976-1989), Stuttgart 1993

11 Hell, Julia: Christoph Hein´s Der Fremde Freund/Drachenblut and the Antinomies of Writing under <Real Existing Socialism>. In: Colloquia Germanica, Band 25, H. 3/4, 1992, S. 308

12 ebd. S. 333

13 Zit. n. Jäger, Andrea: Schriftsteller-Identität und Zensur. In: Literatur in der DDR, Rückblicke, Sonderband Text + Kritik, Hrg. Heinz Ludwig Arnold und Frauke Meyer-Gosau, München 1991, S. 139

14 Saeger, Uwe: DDR-Literatur: politisch verstrickt. In: Die politische Meinung, Nr. 298, 9/1994, S. 88

15 Antonia Grunenberg (ZEIT, Apr. 1994) verglich den Streit über die DDR-Gesellschaft mit dem der Exilanten (Th. Mann) und den “inneren Emigranten” (Molo) nach 1945 und glaubt, drei Motive wiederzufinden: 1. das des “stellvertretenden Leidens” der im Lande verbleibenden, 2. das des Verrats der Gehenden an Dtschl. /DDR und 3. das Motiv der Selbstrechtfertigung der Gebliebenen

16 Kleines Lexikon A-Z, Leipzig 1959, S. 189

17 Honecker, Erich: Bericht des Zk der SED an den 9. Parteitag der SED, Berlin 1976, S. 102

18 Honecker, Erich: Bericht des Zk der SED an den 10. Parteitag der SED, Berlin 1981, S. 107

19 Jäger, Andrea: s. Fußn. 16, S. 144, Die Ursache für die Überbewertung der Literatur sieht sie darin, daß in der Wirtschaft aufgrund fehlender Konkurrenz völlig uneigenützige Arbeiter vonnöten war, deren selbstlose sozialistische Moral Literatur mit ausprägen helfen sollte. Der Sozialistische Realismus, da beliebig anwendbar, diente lediglich zur Legitimation von Zensururteilen: die Zensurpraxis selbst war eine Praxis der Staatsicherheit. - Die Fomulierung “also in den Köpfen des Volkes erfolgreich verankert war” verdiente m. E. eingehendere Erläuterung.

20 Becker, Jurek: Die Wiedervereinigung der deutschen Literatur. In: Text und Kritik 116: Jurek Becker, München 1992, S. 77

21 Maron, Monika: s. Fußn. 5

22 Löffler, Sigrid: “Die alten Themen habe ich noch, jetzt kommen neue dazu”. Gespräch mit Christoph Hein (März 1990), in: Lothar Baier (Hrg.): Christoph Hein, Texte, Daten, Bilder, Frankfurt a.M. 1990, S. 37

23 Grüning, Uwe: DDR: die dichterische Gegenwelt. In: Die politische Meinung, Nr. 292, 3/1994, S. 47

24 Becker, Jurek: s. Fußn. 22, S. 79

25 ebd. S. 78

26 DDR-Literaturentwicklung in der Diskussion, H. Haase, W. Hartinger, U. Heukenkamp, K. Jarmatz, J. Pischel, D. Schlenstedt. In: Weimarer Beiträge., H. 10/1984, S. 1590, siehe auch Weimarer Beiträge H. 7/1979: Gespräch mit jungen Autoren wie Stefan Ernst: “Und wenn nur die eine Wahrheit existiert, nämlich die öffentliche, …​ Aber da gibt es ja noch die Wahrheit in den Büchern, im Kunstwerk. Die Kunst als Lebenshilfe.”

27 Emmerich, Wolfgang: Kleine Literaturgeschichte der DDR. Darmstadt 1989, S. 17

28 Grunenberg, Antonia: Geschichte und Entfremdung. Christoph Hein als Autor der DDR. In: Klaus Hammer (Hrg.): Chronist ohne Botschaft - Christoph Hein. Ein Arbeitsbuch. Berlin, Weimar 1992, S. 79

29 Maron, Monika: Geformt durch die gleiche Kultur. In: ZEIT-Magazin, Nr.45/1987

30 Corino, Karl: Dann wird eben nicht zu Ende gedacht. Monika Marons Roman »Flugasche« und der Journalismus in der DDR. In: Deutsche Literatur 1981. Ein Jahresrückblick, Stuttgart 1982, S. 175

31 Mohr, Heinrich: Mühen in unserer Ebene. Erich Loest und sein neuer Roman. In: Deutschland-Archiv, H.8/1978, Köln 1978, S. 877

32 Becker, Rolf: Anfang der Aufrichtigkeit. Jurek Becker: Schlaflose Tage. In: Der Spiegel v. 6.3.1978, S. 211

33 Zit. n.: Stahl, Sigrid: Der Ausbruch des Subjekts aus gesellschaftlicher Konformität. Frankfurt/M. 1984, S. 8

34 vgl. Interview mit Elmar Faber. In: Börsenblatt für den deutschen Buchhandel 76, 24.9.1993, S. 12

35 Stahl, Sigrid: s. Fußn. 35, S. 109

36 Bischof, Alois: »Mut ist keine literarische Kategorie« Gespräch mit Christoph Hein (1985). In: Lothar Baier (Hrg.): Christoph Hein, Texte, Daten, Bilder, Frankfurt a.M. 1990, S. 95

37 Biermann, Wolf: Nur wer sich ändert, bleibt sich treu. In: Thomas Anz (Hrg.): Der Literaturstreit im vereinten Deutschland, München 1991, S. 149

38 Maaz, Hans Joachim: Der Gefühlsstau. Ein Psychogramm der DDR. München 1992, S. 85f

39 Kuner, Günter: Deutschkunde. In: Die Zeit, Nr. 47/1978. Zit. n.: Stahl, Sigrid: Der Ausbruch des Subjekts aus gesellschaftlicher Konformität. Frankfurt/M. 1984, S. 248

40 Maron, Monika: Kein Recht, sondern Gnade. In: ZEIT-Magazin, Nr.41/1987, S. 6

41 Maaz, Hans Joachim: s. Fußn. 40, S. 57

42 Peters, Peter: Ich Wer ist das. Aspekte der Subjektdiskussion in Prosa und Drama der DDR (1976-1989), Frankfurt/M. 1993, S. 6

43 Peter Peters: s. Fußn. 44, S. 8ff

44 vgl. Psychologisches Wörterbuch herausgeg. von Friedrich Dorsch, Bern 1991, S. 304

45 Hüppauf, Bernd: Moral oder Sprache. DDR-Literatur vor der Moderne. In: Literatur in der DDR, Rückblicke, Sonderband Text + Kritik, Hrg. Arnold, Heinz Ludwig und Meyer-Gosau, Frauke, München 1991, S. 228

46 ebd. S. 229

47 Magenau, Jörg: Strukturelle Befangenheiten. Die Intellektuellen-Debatte. In: Verrat an der Kunst? Rückblicke auf die DDR-Literatur. Berlin, Weimar 1993, S. 62

Erich Loest: Es geht seinen Gang oder Mühen in unserer Ebene

Kapitel 3 - Abschnitt 01 Der Titel weist auf das Thema: den Alltag. Für “räumlich und zeitlich Entfernte” wird die Einfühlung des Lesers durch ein Motto sofort nachgereicht: “In …​ »Es geht seinen Gang« lagen gleichermaßen die Gewißheit geschichtlichen Fortschritts wie die Kapitulation vor der Robustheit des Schlendrians.”1 Die Darstellung der Arbeitswelt, so deutet letzteres an, soll dabei nicht fehlen. Eine Synopse wäre schnell zur Hand:

Wolfgang Wülff (26) aus Leipzig, Ingenieur in einem metallverarbeitenden Betrieb, hat “eine hübsche Frau und eine neue Wohnung und ein quickes Kind” (G 30). Seine Frau projiziert ihren Ehrgeiz in seine Person: sie drängt ihn, ein qualifizierendes Fernstudium aufzunehmen, was er jedoch ablehnt. Die Ehe zerbricht. Wülff findet eine neue Frau, doch die Ziele sind mit einer besseren Wohnung und einem “Trabbi” schon gesteckt…​

3-02 Es ist die quasi-autobiographische Erzählung des Wolfgang Wülff, der sich und dem Adressaten seiner Gedanken, den Genossen und Arbeitskollegen Huppel, glaubt, Rechenschaft ablegen zu müssen über sich und somit die Geschehnisse des letzten Jahres. Und das bedarf keiner weiteren Erklärung. Denn der Ich-Erzähler wie hier Wülff nimmt teil am Geschehen und vermittelt dies zugleich. Er hat einen “Leib”: d. h. für ihn entspringt das Erzählen einer existentiellen Motivation. “Mit anderen Worten, die Vollendung des Lebens eines Ich-Erzählers wird erst mit der Vollendung des Erzählaktes erreicht.”2 Wülffs Erzählmotivation ist das “Bedürfnis nach ordnender Überschau und Sinnsuche”.

Moritz, Bianca, Jutta natürlich, Steinchen für Steinchen - wie sollst Du mich begreifen, wenn du nicht jede Kleinigkeit kennst? Ich möchte, dass du von mir eine gute Meinung hast, oder, nun gehe ich ein Schrittchen zurück, dass du einsiehst, warum ich nicht bin, wie du warst und wie du mich haben möchtest. (13)

3-03 Was den Erzählanlaß betrifft, so muß der Leser den Helden und Erzähler Wülff ganz vertrauen; gewiß ist, dass er einen haben muß. Doch ein traumatisches Erlebnis aus seiner Kindheit, dass ihn geprägt hat und prägen wird, erzählt er recht bald: den Besuch eines verbotenen Beatkonzerts im Jahre 1965. “Bereitschaftspolizisten mit gezogenem Knüppel” (19) und Hunden jagten die Teilnehmer durch die Gassen. Wülfi wird von einem volkseigenen Hund gebissen, der seinen naiven Vorstellungen nach nur Imperialisten hätte beißen dürfen.

Auf einmal war ich Feind (20). …​ Vor der Schlacht auf dem Leuschnerplatz war die Welt für mich sauber eingeteilt. Der Feind stand im Westen; die Amerikaner bombardierten Vietnam, Kiesinger war Faschist. Nun biß mich einer unserer Hunde, der eigentlich einen Ami hätte beißen sollen…​ (23)

Wieder im inneren Monolog an Huppel adressiert, schildert er die Folgen dieser Bekanntschaft mit der Staatsmacht für sich:

Damals war ich überzeugt, ich würde mich vor allem rächen wollen, heute weiß ich, dass ich als gebranntes Kind das Feuer scheute und die Streichhölzer dazu. (24)

3-04 Noch eine andere Erfahrung mag wichtig für ihn gewesen sein. Ausgerechnet seine Gefährten Jogi und Hoschko, die noch lauthals verkündet hatten, ebenfalls zum (Demonstrations-)Konzert zu kommen, lassen ihn im Stich. Er, der sich zuvor ablehnend der Sache gegenüber geäußert hatte, ist am Ende der einzig Handelnde. (vgl. 16) Daß es mit der Solidarität der Menschen “nicht weit her ist”, hat er früh lernen müssen. Ist der Roman von einem lockeren, kolloquialen Erzählgestus geprägt, so ist es diese Episode, die “Schlacht vom Leuschnerplatz” (23), ganz besonders. So wird sie als die “glanzvollste Passage”3 des Roman gesehen. Die “Schnoddrigkeit…​ tradiert den amerikanischen Roman, Selby oder C. Bukowski.” 4

3-05 Der Leser kann in dem “gebrannten Kind” kaum noch einen Helden wie “Superman Kortschagin” (15) erwarten, doch versucht der Erzähler, die Spannung zu erhalten, wenn er räsonniert, “ich glaubte, mit einem Schluck unter Männern ließe sich aller Ärger aus der Welt schaffen. Heute weiß ich, dass das nur die Hälfte des Problems war.” (24) Zudem kündigen die Äußerungen seiner Selbstzufriedenheit wie “Meine Welt war heil” (67) die nahende Katastrophe schon an. Derweil richtet er sich in seiner AWG-Welt mit Schrankwand und Radiolämpchen ein. Letzteres ist für ihn ein Symbol für Geborgenheit, aber auch für Angepaßtheit (8,10, und Schlußsatz): eben “genormte Gemütlichkeit” (106).

3-06 Der Polizeihund knurrt sich leitmotivisch durch Wülffs Erzählung. Er ist für ihn Synonym für ein Grunderlebnis, für den Dämpfer, den Vater Staat scheinbar erfolgreich für jeden Untertanen bereithält. Der blinde Historiker (!) Wilfried Neuker sträubt sich, zur Luftkriegsgeschichte des Zweiten Weltkrieges ein Vietnam-Bombardement-Kapitel anzuhängen. So denkt sich Wülff:

Ein Biß in den Hintern bleibt keinem erspart, je eher du ihn abkriegst, desto besser ist es, das bewahrt dich vor dußliger Spinnerei. Auch du, Wilfried Neuker, wirst diese Erfahrung nicht umgehen, bloß: Je älter du bis dahin wirst, desto härter trifft´s dich. (36)

Später muß Wülff gegenüber Huppel erkennen, dass fast jeder ein traumatisches Erlebnis hat, sei er nun aus der 'Aufbaugeneration', oder wie Wülff und Neuker aus der der “mit der DDR Gewachsenen” (188):

Wilfried hat seine Bomber, dachte ich, du hast deinen Stalin, ich hab meinen Hund. (126)

3-07 Spöttisch nennt Wülff den Hund, der ihm als Freund und Helfer die richtige Richtung wies “einen nichtantagonistischen Hund.” (36) Daß die zurecht bespöttelte Sprache der SED-Ideologen einen ernstzunehmenden Hintergrund hatte, sieht Andrea Jäger:

Für das an seinen Erfolgsmaßstäben gemessene Mißlingen der Produktion hatte der DDR-Staat eine politische Interpretation zu bieten. Nicht als antagonistisch sollte man diese Gegensätze begreifen, sondern als nichtantagonistische, durch entsprechende Handhabung also aufhebbare. Die Zufriedenheit des Staates mit seiner Produktionsweise drückte sich in dieser Kritik als Gewißheit aus, eigentlich über alle Mittel zu verfügen, die Ökonomie erfolgreich und effektiv zu gestalten, weshalb es lediglich vom Gebrauch der Mittel abhängen sollte, ob sich die gewünschten Resultate einstellten. Die Unzufriedenheit hatte somit einen Adressaten: die Subjekte, die von den staatlichen Mitteln nicht den richtigen Gebrauch machten und so die gewünschten Ergebnisse vereitelten.5

3-08 Demnach hätte ein jeder DDR-Arbeiter viel zu tun. Zahlreiche Bewährungsproben, intellektuelle wie physische, gäbe es zu bestehen. So schreibt das Kulturpolitische Wörterbuch, dass “die sozialistische Persönlichkeit sich vor allem in der Arbeit für die sozialistische Gesellschaft und in den verschiedenen Formen sozialistischer Kollektive entwickelt.”6 Wülffs Arbeitswelt lernt der Leser in der Hauptsache über die “Spinnstunde” (44), der perspektivischen Beratung des Kollektivs mit Grosser als Leiter kennen. Dort erzählt Wülff die Einzelheiten und sinniert über Kollegen und die Arbeitsbedingungen. Im Zentrum dieser Überlegungen stehen Grosser und die Entwicklung des Exportartikels des Betriebes. Über letzteres, im Jargon “Mimik” (8) genannt, ist er eng mit Huppel verbunden.

3-09 Grosser, um die fünfzig und sechsfacher Aktivist, “hatte ein halbes Jahr in der Klapsmühle gelegen, dort verarzteten sie Kaderleiter, Werkleiter und Schulleiter mit Spazierengehen…​” (48). Als Ergebnis lagen drei rote Kügelchen stets auf seinem Schreibtisch. Aber auch Tabletten können einen Anfall nicht verhindern, als er von einem Schwenk der Werkleitung oder gar des Ministeriums in Sachen “Mimik” erfahren muß.

Haupttechnologe und Abteilungsleiter schrien gegen das Geschick aller Leiter an, in einer festen Richtung marschiert zu sein unter strahlender Sonne mit markantem Ziel und plötzlich eine Schwenkung vollziehen zu müssen, und der Horizont war dunkel und die Straße schlaglöchrig…​ (47)

3-10 So denkt sich Wülff, dass auch er bald rote Kügelchen auf dem Schreibtisch haben könnte, würde er dem Drängen seiner Frau, “daß jeder die Pflicht hatte, das Möglichste aus sich zu machen…​” (55), nachgeben. Um Tiefschläge der Art Grossers zu vermeiden, macht er lediglich “Dienst nach Vorschrift”. Er weiß auch geschickt seinen “Urlaub” in der Bibliothek gegenüber Grosser zu behaupten. (vgl. 85), doch kann er dort auch “rackern”. Sobald er eine eigenverantwortliche Aufgabe zur Lösung erhält, ist Wülff zu engagierter und konzentrierter Arbeit fähig. So arbeitet er mit Huppel an der Entwicklung eines Reparaturstützpunktes.

Einmal fuhr ich mit Huppel nach Magdeburg, einmal allein nach Karl-Marx-Stadt, da überprüften wir unser Modell schon an der rauhen Luft. An einem Freitag bündelten wir alle Unterlagen, um sie am Montag darauf Grosser zu präsentieren. (123)

3-11 Doch lehnt er die Qualifizierung zum Diplomingenieur ab.

Ich scheute Büffelei und Hetze am Abend und an den Wochenenden, ich wollte mir keine Magengeschwüre einhandeln, aber der Hauptgrund war, daß ich kein Chef sein wollte, dass ich die Verantwortung der Macht scheute. (55)

Der Leser muß entscheiden, ob der “Hund vom Leuschnerplatz” mehr zur Rechtfertigung seiner Weigerung zur Qualifizierung dienen muß oder wirklich ihre Ursache ist. Ganz deutlich über das vielleicht wichtigste Argument äußert sich Wülff schon ein paar Seiten zuvor:

Meine liebe Frau spielt darauf an, dass ich nicht danach lechze, fünf Jahre Fernstudium ans Bein zu binden, um ein paar müde Mark mehr zu verdienen. (33)

Wie wäre wohl Wülffs Entscheidung ausgefallen, würde er als Diplomingenieur eigenverantwortlich arbeiten können, und würde er eine viel bessere Entlohnung als sonst üblich erfahren? Doch er weiß, dass er wenig Verantwortung zu tragen haben würde, der Lohn immer gleich bliebe. Weder würde er für Mißerfolge verantwortlich gemacht, noch würden die Erfolge seiner Arbeitsleistungen sich in der Lohntüte widerspiegeln. Und um die Bananen zu bekommen, bedarf es sowieso mehr einer “Dienstreise in den Konsum” (58) als eines höheren Lohns.

3-12 Heinz Hillmann weist auf die (übriggebliebene) Bedeutung von beruflicher Weiterbildung hin:

…​fachliche Qualifikation …​ ist nur noch der Aufstieg zu einsamen Spitzenposten. Ist nur noch berufliche Karriere, die - auf Kosten aller anderen und deshalb auch ohne deren ständige Mitarbeit und Hilfe - nie endende Selbstüberforderung verlangt und strenge Genußlosigkeit. Der Aufsteiger ist unweigerlich ein lebensunfähiger Asket. Qualifikation ist nicht mehr Lust und Bedürfnis aller, sondern der Ehrgeiz einzelner geworden: »Keiner drängte mehr, dass sich jemand qualifizierte, wenn ich von Jutta absah«. (42)7

Es sind die hemmenden Arbeitsverhältnisse, die den Helden Wülf in erster Linie dazu bringen, im Arbeitsleben sich den Erwartungen der Gesellschaft entgegenzustellen. Ironischerweise behält das bereits zitierte Kulturpolitische Wörterbuch recht: Die “sozialistische Persönlichkeit” entwickelte sich tatsächlich nur in den sozialistischen Arbeitskollektiven. Wenn sich in der DDR der Propaganda nach Selbstbewußtsein und Persönlichkeit besonders am Arbeitsplatz ausbilden sollte, so waren liebenswerte Menschen wie Wülff auch ganz besonders 'Kinder der DDR' und ihrer Arbeitskollektive. So nennt Huppel ihn einen “verkappten Frührentner” (206), was er in einem gewissen Sinne auch ist. Wolf Biermann weiß es noch 1990:

Die DDR hat es leicht. Es wird schwerer und schlechter gehn, als Kohl es den Heimkindern im Osten versprach, aber besser als vorher. Das gesicherte Dahinsiechen ist vorbei. Alles ist in Bewegung geraten, die lebenslangen Frührentner fangen an ranzuklotzen wie sonst nur am Wochenende auf der Datscha. Der chronische Bummelstreik ist beendet. Auf einem Arbeitsplatz werden sich nicht drei abgestumpfte Leute räkeln.8

3-13 Auch der alte Parteigenosse Huppel bleibt vom hemmendem Dirigismus und Bevormundung nicht verschont:

Huppel wurde in die Messehallen geschickt, um abzugucken bei Freund und Feind. In einer Vorbesprechung untersagten ihm die Anleiter jedwegen Kontakt mit westlichen Ausstellern, da lief Huppel beleidigt herum und fragte mich provokatorisch, wie er denn bundesdeutschen, französischen und belgischen Tricks auf die Spur kommen sollte, wenn ihm der Mund abgrenzungsbewußt verklebt wäre. (194)

Bei Huppel lösen diese Verhältnisse zwar Verbitterung aus, doch geht er immer noch davon aus, eingreifend wirken zu können. Zumindestens käme er nicht auf den Gedanken, seine Arbeit nachlässig und widerstrebend auszuführen. Ein Eingeständnis fundamentalem Versagens wird es von ihm nicht geben. Zu sehr ist das Gegenwärtige Ergebnis seiner Arbeit vor dem Hintergrund des schweren Aufbaus, zu sehr ist seine Identität mit den Jahrzehnten des Berufsleben verknüpft. Ihm bleibt nur die Hoffnung und die Erwartung an “die Subjekte, die von den staatlichen Mitteln nicht den richtigen Gebrauch mach(t)en.” (Grunenberg) Ganz anders Wülff:

Die Generation der heute Dreißigjährigen in der DDR hat den Sozialismus nicht als die Hoffnung auf das Andere erfahren, sondern als deformierte Realität. Nicht das Drama des Zweiten Weltkrieges, sondern die Farce der Stellvertreterkriege (gegen Jazz und Lyrik, Haare und Bärte, Jeans und Beat, Ringelsocken Guevara-Poster, Brecht und Dialektik). Nicht die wirklichen Klassenkämpfe, sondern ihr Pathos, durch die Zwänge der Leistungsgesellschaft zunehmend ausgehöhlt.9

3-14 Diese oft bemühten Worte Heiner Müllers aus dem Jahre 1977 können für die Erfahrung aller Protagonisten dieser Arbeit stehen, für Wolfgang Wülff jedoch besonders. So ist die Erzählung des Wülff eine Auseinandersetzung mit der älteren Aufbaugeneration. In Huppel finden Wülffs Rechtfertigungsversuche inhaltlich einen (stellvertretenden) Adressaten. Dem Ich-Erzähler dient er als Medium zur Strukturierung und Berechtigung des erlebenden Ichs in Form innerer Monologe und erlebter Rede; und als Voraussetzung dessen parallel die Schilderung des letzten Jahres als erzählendes Ich.

Huppel, alter Huppel, alles war anders zu deiner Zeit, …​ Natürlich habt ihr keine kalten Platten aufgetafelt und keinen Hemus getrunken, aber habt ihr euch vielleicht nach Fleisch und Wein gesehnt? Habt ihr dafür gekämpft, oder wofür? Und warum beschimpfst du mich, daß ich zufrieden bin, ist nicht Zufriedenheit das beste überhaupt? (222)

3-15 So meint Heinz Hillmann, daß “Wülffs Zufriedenheit mit dem kleinen Kreis von Essen und Trinken, Frau und passabler Arbeit nicht einfach Rückfall ins Spießerdasein ist…​ , sondern bewußte Abgrenzung von den 'Kämpfern' heute.”10 Diese Abgrenzung bedarf von seiten Wülff keiner flammenden Verteidigungsreden oder anderer Aktionen, zu der man sich öffentlich bekennen muß. Sein Anderssein gegenüber den Wunschvorstellungen des Staates ist ihm lediglich bewußt…​

3-16 Als hätte Loest die Reaktionen der “offiziellen” DDR-Literaturkritik erahnt, läßt er Wülff gleich zweimal insistieren:

Diese zehn Jahre sind meine Jahre, was ich gesehen habe, hab ich gesehen, was ich gehört habe, hab ich gehört, was ich gedacht habe, hab ich gedacht, und da möchte bitte keiner kommen und sagen, alles wäre ganz anders gewesen. (15, vgl. 222)

Neuberts Reaktion im “Sonntag” kommt einem Urteil gleich.

Wülffs zahlreiche ärgerliche Tagesbeobachtungen, die ihn wundstoßen, sind nicht die bestimmende real-humanistische Tendenz unseres Lebens…​ Viele zufällige Mikro-Teilchen ergeben noch nicht die objektive Wahrheit…​ Der kleinbleibende Mann reagiert sein Mißbehagen ab, das er selbst immerzu in sich produziert.11

Rüdiger Bernhardts Urteil manifestiert sich schon im Titel seiner Wortmeldung: “»Die Mühen des Wolfgang Wülff«, die als Folge des individuellen Versagens jenes Ich-Erzählers entstehen”12 Er vermißt die Distanz seitens des Autors zur Erzählerfigur, so daß Wülff als “repräsentativ für gesellschaftliche Vorgänge” erscheinen muß. Huppel hätte als Korrektiv und relativierende Kraft zu Wülff fungieren können, wird aber von letzterem nicht als Partner akzeptiert. Ähnliches hatte Loest schon bei Vorbesprechungen mit Lektoren im Mitteldeutschen Verlag zu hören bekommen. Franz Fühmann hatte diese Argumente der Kulturoffiziellen in der Rede über »Literatur und Kritik« umrissen:

Der Ruf nach Schablone verbirgt sich gern hinter Theorien von der richtig zu wahrenden Proportion. Etwa so: Daß ein Roman- oder Filmheld beim Aufstieg in höhere Positionen an Solidaritätsgefühl verliert - natürlich dürfe man das gestalten, doch mit der Doppelzahl Gegenbeispiele, wo solches Verarmen nicht der Fall sei, so daß am Schluß der Sachverhalt, um dessentwillen der Autor zur Feder gegriffen hat, nicht mehr als eine Episode bildet, über die sich dann keiner mehr erregt.13

3-17 Diese Argumentation soll auch beim zweiten in der DDR erschienenen Werk dieser Arbeit, Heins Fremdem Freund, eine Rolle spielen. Spöttisch reagiert Loest auf das Ansinnen des Verlages, einen Erzähler einzuführen, “der das was Wülff da erzähle, seinerseits erzähle und dabei kommentiere, werte”:

Ich füge hin und wieder …​ eine Fußnote hinzu, und da erteile ich meinem Wülff Zensuren, wie da sein könnten: Hier irrt Wolfgang! Mangelhaftes Klassenbewußtsein! Kollegiales Verhalten: 3 minus…​14

3-18 Sollte es Loests Ziel gewesen sein, eine möglichst exemplarische Figur zu schaffen, “die mit dem Sozialismus gewachsen ist”, so können Neuberts und Bernhardts überzogene Reaktion Indiz dafür sein, dass ihm das gelungen ist. “Loests Grundthema ist, dass die gesellschaftliche Dialektik den Widerstand des einzelnen braucht. So ist die Bequemlichkeit von Wolfgang Wülff als die Weigerung entwickelt, sich korrumpieren zu lassen. (Wülff als neuer Taugenichts)15. Bedarf es einiger Mühe, den Opportunismus Wülffs im Arbeitsleben als teilweise begründet zu erklären, ist die Frage nach Opportunismus im Privatleben völlig überflüssig, denn dort ist er unbestechlich. So macht seine Frau den berechnenden Vorschlag, Wülffs Chef (Grosser) auf einen Kaffee einzuladen.

Und wenn ich als Diplomer im Betrieb bliebe, sagen wir als Cheftechnologe: Kontakte auf privater Ebene - da fiel es schwer, jemanden ein Bein zu stellen. Wenn die Frauen sich kannten. Beruhigend, ausgleichend. Mal unter der Hand ein Tip. (25)

Wülff lehnt jedoch ab.

3-19 Zu richtiger Charakterstärke bringt Wülff es im Schwimmkurs seiner Tochter. Dort muß er erleben, wie Kinder gegen ihren Willen von Erwachsenen beliebig hin und her geschubst werden. Seine Frau macht bei dem “Treiben der männlichen Helden” (128) fleißig mit. Die Kinder werden durch Wülffs Perspektive vergegenständlicht: sie erscheinen nur noch als Badekappen mit großen Lettern, als Eigentum der Eltern. Als ein Vater wieder einmal erbarmungslos sein Eigentum ins Wasser drängen will, springt Wülff dazwischen und nennt ihn einen “gottverdammten Faschisten” (132). Jutta, Wülfs Frau, verlangt von ihm, sich beim Besitzer DETLEVS, “der sich eines tadellosen gesellschaftlichen Rufes erfreute” (139), zu entschuldigen, doch er bleibt hart. Auch vor der folgenden Konfliktkommision.

»Ein Faschist ist er nicht, hatte ich beschlossen, aber er ist brutal wie ein Faschist.« Herr Dr. Feldig war schnaufend aus dem Raum gestürzt, der Vorsitzende hatte die Hände gerungen: »Herr Wülff, müssen sie sich denn immer noch mehr einbrocken?« (139)

3-20 Für Jutta ist es der willkommene Anlaß, die Scheidung vom “Versager” (136) einzureichen. In dieser sehr larmoyanten Schwimmbadepisode kommt Wülffs Abneigung gegen die Leistungsdisziplin zum Ausdruck, deren Grundsteine in der Kindererziehung gelegt werden und später als Leistungsanspruch der Gesellschaft auch ihm zu schaffen machen. Im Schwimmbad zeigt Wülff Eigenschaften, die eigentlich zutiefst sozial sind: er kann sich einfühlen, kann mitleiden, und vor allem kann er eine richtig geglaubte Kritik bis zur letzten Konsequenz durchstehen. Mit dieser Szene bekommt Wülff ironischerweise auch das Privileg des “einzigen Widerständigen” im Figurenensemble des Romans. Wenn man ihn des Opportunismus bezichtigte, welche Charakterisierung träfe dann auf den Genossen Neuker zu? Dieser korrigiert im Lebenslauf seines Sohnes den Satz Wenn ich meine Militärzeit hinter mir habe in Nach Beendigung meiner Dienstzeit. Doch das ist ihm noch nicht Sklavensprache genug:

Sofort nahm er diesen Satz halb und halb zurück: ihm war der Zwang zu stark ausgeprägt: die Freiwilligkeit, die freudige Einsicht fehlten. (187)

Soweit geht Wülffs Angepaßtheit nicht. Er ist zwar ein Spießer, der seinen Frieden mit der DDR gemacht hat, doch ein Opportunist ist deswegen noch lange nicht. Er ist immer bedacht, in den “Mühen der Ebene” einen eigenen Moralkodex aufrechtzuerhalten, für den er auch schon mal Unannehmlichkeiten in Kauf nimmt.

3-21 Eine Stütze ist ihm dabei das Bewußtsein seiner Herkunft, auch wenn es oft in rüder Sprache endet, wie beim Eklat im Schwimmbad mit Dr. Feldig:

»Leckt mich doch alle am Arsch«, sagte ich mit gewöhnlicher Stimme, wie ein Arbeiter so was sagt, in diesem Augenblick war ich Werkzeugmacher aus der Gegend um die Thälmannstraße, nicht Ingenieur…​ (132)

Immer wenn er die Mutter besucht, werden ihm seine Wurzeln zu Bewußtsein gebracht, als Gegenpol zum “Oktoberbeton” des Neubauviertels seiner jetzigen Durchschnittsexistenz. Wenn er sagt: “Ich stamme aus dieser Wohnung, aus dem Viertel hinter der Thälmannstraße, aus Leipzigs Osten; ich rede so, wie man hier redet, ich denke so, wie man hier denkt.” (89), muß seine Beschreibung der Leute aus dem Viertel auch für ihn Anwendung finden:

Sie kakelten über Gärten und Hunde, über Krankheiten und das Wetter. Die Politik mieden sie, nicht weil sie Angst gehabt hätten, sie könnten Ärger kriegen, sondern weil sie keinen Einfluß hatten; Israelis und Araber schossen auch ohne ihr Zutun…​. In diesen Kneipen wurde nie über ein Buch geredet, nie über ein Theaterstück und schon gar nicht über ein Konzert. Die Debatten, ob es im Osten oder im Westen besser war, hatten sich totgelaufen. Immer gab es einen Fritsche-Kurt, der fremdging…​ (28f)

3-22 Antonia Grunenberg hält Wülff weder für “oppositionell noch klammheimlich illoyal. Er ist ein treuer Staatsbürger, der seinem Staat und seiner Partei vertraut…​”16 Doch kann man von Vertrauen sprechen bei einem Menschen, der sich eingerichtet, und was Politik betrifft, resigniert hat? Es mag der Schein entstehen, Wülff sei unpolitisch, doch ist er erstaunlich gut über Politik informiert. “Irische Bombenleger” (108) und Nixons Rücktritt (72) sind ihm genauso bewußt wie Probleme der näheren Umgebung: es fehlen 200 Millionen Mark für ein auditorium maximum (106).

3-23 “Indem Loest ein Stück aus dem Leben dieses Mannes nachzeichnet - sein vermeintliches berufliches und politisches 'Versagen' …​, kann er die DDR-Gesellschaft zeigen, wie sie heute weithin ist: spießig und muffig, leistungsorientiert und unsolidarisch, autoritär und selbstgerecht.”17 Ein westdeutsches Urteil vor dem Hintergrund des offiziellen Selbstverständnisses der DDR. Für den heutigen Leser hält Loests Buch eine zwar nicht wertfreie, doch sehr liebevolle, detailgetreue Chronik der (sächsischen) DDR-Gesellschaft der siebziger Jahre bereit. Besonders dann, wenn man unter Chronik auch das Einfangen der Gedankenwelt der Menschen begreift. Der damalige DDR-Leser war sicher eher bereit, Wülffs Beteuerung, dass “seine Erfahrungen ja kein Roman sind” (135), mit einem Ausruf 'Ja, so ist es!' Glauben zu schenken.

3-24 “Ich bin, wie ich bin.” (207), sagt Wülff, und zeigt an, dass er nicht nur mit der DDR seinen Frieden gemacht hat, sondern auch mit sich selbst im reinen ist. Immer wieder bescheinigt der Erzähler seine Zufriedenheit, zu Beginn (30, 67) genauso wie am Ende (222). Seine ganze Aufmerksamkeit ist dem Privatleben gewidmet. Dort “entfalten sich Tugenden wie praktischer Sinn und Phantasie, Sensibilität für Natur und Menschen, Freundlichkeit, die Vergnügungen der Sinne.”18 Wenn er von sich sagt, er sei kein Held (203) (im Sinne offizieller DDR-Propaganda), so mag das vielleicht genau der Nährboden sein für seine bestechendste Eigenschaft, seiner ganz individuellen Humanität. Die Humanität, “die später kommt” (124), hat sich in die Privatheit des “DDR-Spießers” (203) Wülff zurückgezogen.

3-25 Die Persönlichkeit des Wülff, seine Identität mit sich selbst, ist dem Roman von Anfang an vorgegeben. Diese Identität speist sich zum einen aus dem Bewußtsein seiner Herkunft als Werkzeugmacher aus dem Leipziger Osten. Er ist stolz auf sie und flüchtet in Situationen der Erregtheit und Bedrängnis in den Dialekt seines Viertels mit samt Vokabular. Zum anderen fußt sie auf den Zusammenprall mit der Staatsmacht auf dem Leuschnerplatz im Jahre 1965. Als charakteristisches Merkmal der quasi-autobiographischen Ich-Erzählung betont Franz Stanzel die “innere Spannung zwischen dem Ich als Helden und dem Ich als Erzähler”. Für diese beiden Phasen im Leben des Erzähler-Ichs führte Stanzel die Begriffe erlebendes Ich und erzählendes Ich 19ein.

Die Erzähldistanz, die zeitlich, räumlich und psychologisch die beiden Phasen des Erzähler-Ich trennt, ist im allgemeinen ein Maß für die Intensität des Erfahrungs- und Bildungsprozesses, dem das erzählende Ich unterworfen war, ehe es begann, seine Geschichte zu erzählen. […​] Die Vielfalt der Gestaltungen der Erzähldistanz reicht von Identifikation bis zur völligen Entfremdung zwischen erzählendem und erlebendem Ich.20

Für Wülff liegt die Leuschnerplatz-Episode fast zehn Jahre zurück, so daß man annehmen kann, dass er sie inzwischen vollends verarbeitet hat, nämlich als identitätsstiftend. In Anlehnung an Stanzel läßt sich sagen, daß je länger die Erzähldistanz, je entfernter das erzählende Ich dem erlebenden Ich steht, desto weiter ist der Wissens- und Wahrnehmungshorizont des erlebenden Ich und desto größer ist die Wirkung der Erinnerung als Katalysator, der die Erlebnissubstanz zu klären imstande ist.21

3-26 So monierte Eberhardt Günther im Verlag bei Vorbesprechungen, dass Wülff im Laufe des Buches keinerlei Entwicklung durchmacht, weder im negativen noch im positivem Sinne.22 So war es vom Autor wohl beabsichtigt. Folglich fungieren Wülffs inneren Monologe weniger als Selbstfindung, sondern hauptsächlich als Rechtfertigung Huppel gegenüber. Im Gegensatz zu letzterem hat Wülff keine Ideale, um die er angesichts der Realität ständig trauern muß.

Gerhard Zwerenz äußerte sich im Rundfunk:

Das rätselhafte Buch kann ebenso ein raffiniertes, opportunistisches Bekenntnis zum DDR-Untertanen sein wie eine ungeheuerliche sarkastische Satire darauf. 23

Mit anderen Worten: gibt Wülff nur vor, zufrieden zu sein, oder ist er es wirklich? Für Rüdiger Bernhardt scheint letzteres der Fall zu sein: “…​ seine Zufriedenheit wird ihm nicht zum Problem, denn als Problem erscheint nur, daß Wülff die immer kleinere Ausführung von Zufriedenheit sucht.”24 Und meint damit Wülffs neue Gefährtin. Wenn der Roman Es geht seinen Gang…​ schon nicht rückgängig gemacht werden konnte, mußte folgender Ratschlag an den Rezipienten her:

Im Ensemble der Gegenwartsliteratur erhält dieser Roman seinen Stellenwert deswegen auch durch das Korrektiv, das der kritische Leser immer bilden sollte.25

Dies ist insofern interessant, als daß die Fähigkeit “des Korrektiv-Bildens” dem Leser bei Christoph Heins Novelle Der fremde Freund abgesprochen wurde. Es ist mehr die Realsatire, in deren Rezeptionsvorgang dieses Korrektiv nicht unbedingt vorgesehen ist, die Bernhardt zu schaffen macht. Zu sehr besteht 'die Gefahr', dass der Leser sich mit Wülff identifiziert. Nur Wülff bleibt durch die an den Ich-Erzähler gebundene Innenperspektive die Darstellung seiner Gedankenwelt vorbehalten. Abteilungsleiter Grosser ist von diesem Privileg ausgeschlossen. Auch das wirkt sympathiesteuernd.

3-27 Heinz Hillmann definiert Subjektivität “als das sich im Unglück über seine persönliche Beschränktheit, im hellsichtig werdenden Zorn über die allgemeinen Beschränkungen erfahrene Subjekt…​”26 , um daraus auf Wülff abzuleiten, dass dessen “Subjektivität sich ausprägt als Negation des unglücklichen Bewußtseins, das wir ja seit Christa T. zur Genüge kennen.”27

Aber diese Negation ist durch und durch widersprüchlich und deshalb höchst instabil. Um den Widerspruch von Ideal und schlechter Wirklichkeit loszuwerden, gibt sie nämlich das Ideal auf und setzt die schlechte Realität als ihr Ideal. Dies uralte, in der DDR jetzt neuentstehende Ideal des mäßigen Genusses in Arbeit wie Freizeit ist aber, ebenso wie die sich darin statisch setzende Klein-Persönlichkeit, gar nicht möglich. Denn Genuß, dieses positivste menschliche Bedürfnis, drängt unweigerlich auf Expansion, wird aber durch eine schlechte Wirklichkeit, die Genuß nicht zulassen darf, ständig eingegrenzt und gehemmt. So ist auch die kleine Persönlichkeit unglückliches Bewußtsein, wenn auch in kleinerem Maße. …​ Man sieht: Wülff mag sich anstellen wie er will. Die große Persönlichkeit einer älteren Generation wird tragisch gebrochen; die kleine ist - aus solchen Gründen - sogleich gebrochene Persönlichkeit, die aber trotz ihrer Reduktion noch ständig kollidiert und damit tragikomisch wird.28

Wülff hat jedoch kein “Ideal” aufzugeben für etwas anderes. Für ihn gab es immer schon die ihn umgebende Realität, einschließlich verlogener Bildbände. Zwischen “schlechte Realität als Ideal setzten” und “sich in der Realität einrichten” liegen einige Nuancen. Unbestritten ist, dass die “Klein-Persönlichkeit” zwangsläufig tragikomische Züge tragen muß, und auf die Frage, ob denn Wülff tatsächlich zufrieden ist, ein erhellendes Licht wirft. In ganzer Konsequenz haben diese Frage wohl nur die geschichtlichen Ereignisse der Jahre 1989/90 beantwortet.

3-28 Es ist leicht, wie James Knowlton zu konstatieren, Wülff habe eine Objektrolle inne und sie auch akzeptiert:

Thus the novel ends with Wolfgang launching a new life which will probably repeat the meaningless cycle he has just completed. In withdrawing from active public existence and eschewing attempts at social change, Wolfgang becomes an object , a victim of …​ relationsships of domination, which he accepts as an alien fate from without.29

Außer daß er Wülffs Privatleben als “meaningless” abwertet (Claudias aus dem fremden Freund wäre es dann um so mehr), stellt sich analog der “Zufriedenheit” die Frage, ob man eine Objektrolle je richtig “akzeptiert”? Welchen Status haben der Ex-Lehrer Simrock und die Ex-Journalistin Nadler am Ende ihrer Geschichte inne? und “akzeptieren” sie ihn?

3-29 Eine ganz andere Sicht bietet sich für Hans-Joachim Maaz aus der Psychotherapie:

Will man die Lebensweise als Kompensation verstehen, dann muß sie Gelegenheit lassen, gestaute Lebensenergie ersatzweise zu verbrauchen. Dies geschah in der DDR vor allem als Verweigerung oder als Anstrengung. Die Verweigerung muß als aktiver Vorgang verstanden werden: Gehemmtheit, Zurückhaltung, Passivität, Bequemlichkeit und Versorgungsmentalität verbrauchen Energie, um das Leben ständig zu zügeln, zu behindern und zu bremsen, und zugleich wurden wir damit etwas von der zurückgehaltenen Aggressivität los. Anpassung als energieverbrauchende Kompensation und sozialer »passiver« Widerstand als indirekte Aggression! Wir rächten uns wegen der ewigen Bevormundung: Wenn wir schon in unseren Freiheiten eingeschränkt wurden, dann konnten wir wenigstens durch trotzige Interesselosigkeit, Hilflosigkeit und Abhängigkeit dafür sorgen, dass die Entwicklung stoppte und nichts mehr richtig funktionierte. Es ist so, als wenn ein Kind mit erfrorenen Fingern zu seiner Mutter sagen würde: Das hast du nun davon, warum ziehst du mir keine Handschuhe an! 30

“Kein Stoff für eine Tragödie” (218), aber für Es geht seinen Gang oder Mühen in unserer Ebene.

1 Loest, Erich: Es geht seinen Gang oder Mühen in unserer Ebene, München 1994 (dtv 10430), alle Zitate folgen dieser Ausgabe

2 Stanzel, Franz K.: Theorie des Erzählens, Göttingen 1995, S. 128f

3 Mohr, Heinrich: Mühen in unserer Ebene. Erich Loest und sein neuer Roman. In: Deutschland-Archiv, H.8/1978, Köln 1978, S. 876

4 Fritz R. Fries in: Loest, Erich: Der vierte Zensor. Vom Entstehen und Sterben eines Romans in der DDR. Köln 1984, S. 36

5 Jäger, Andrea: Schriftsteller-Identität und Zensur. In: Literatur in der DDR, Rückblicke, Sonderband Text + Kritik, Hrg. Heinz Ludwig Arnold und Frauke Meyer-Gosau, München 1991, S. 140, siehe auch Fußn. 21

6 Kulturpolitisches Wörterbuch, Berlin 1978 (Dietz-Verlag), S. 553

7 Hillmann, Heinz: Subjektivität in der Prosa. In: Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur, Bd. 11, Hrg. Hans Jürgen Schmitt, München Wien 1983, S. 433

8 Biermann, Wolf: Nur wer sich ändert, bleibt sich treu. In: Thomas Anz (Hrg): Der Literaturstreit im vereinten Deutschland, München 1991, S. 154

9 Heiner Müller zit. n.: Emmerich, Wolfgang: Kleine Literaturgeschichte der DDR. Darmstadt 1989, S. 16

10 Heinz Hillmann: s. Fußn. 57, S. 432

11 Neubert, Werner: Es geht seinen Gang. In: Sonntag Nr. 31, 1978, S. 4f

12 Bernhardt, Rüdiger: Die Mühen des Wolfgang Wülf. In: Neue Deutsche Literatur, H. 11/1978, S. 141

13 zit. n.: Loest, Erich: Der vierte Zensor. Vom Entstehen und Sterben eines Romans in der DDR. Köln 1984, S. 20

14 ebd. S. 24

15 Alexander von Bormann, zit. n.: Loest, Erich: Der vierte Zensor. Vom Entstehen und Sterben eines Romans in der DDR. Köln 1984, 62

16 Grunenberg, Antonia: Aufbruch der inneren Mauer. Politik und Kultur in der DDR 1971-1990, Bremen 1990, S. 193

17 Emmerich, Wolfgang: Kleine Literaturgeschichte der DDR. Darmstadt 1984, S. 203

18 Mohr, Heinrich: Mühen in unserer Ebene. Erich Loest und sein neuer Roman. In: Deutschland-Archiv, H.8/1978, Köln 1978, S. 877

19 Stanzel, Franz K.: Theorie des Erzählens, Göttingen 1995, S. 271

20 ebd. S. 272

21 vgl. ebd. S. 273

22 vgl. Loest, Erich: Der vierte Zensor. Vom Entstehen und Sterben eines Romans in der DDR. Köln 1984, S. 26

23 ebd. S. 37

24 Bernhardt, Rüdiger: Die Mühen des Wolfgang Wülff. In: Neue Deutsche Literatur, H. 11/1978, S. 145

25 ebd. S. 148

26 Hillmann, Heinz: Subjektivität in der Prosa. In: Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur, Bd. 11, Hrg. Hans Jürgen Schmitt, München Wien 1983, S. 386

27 ebd. S. 432

28 ebd. S. 432f

29 Knowlton, James: »Mit dem Sozialismus gewachsen« Erich Loest´s Novel Es geht seinen Gang oder Mühen in unserer Ebene And Recent GDR Cultural Policy. In: Neophilologus, Bd. 68, H.4, Oktober 1984, Groningen, S. 594

30 Maaz, Hans Joachim: Der Gefühlsstau. Ein Psychogramm der DDR. München 1992, S. 93

Jurek Becker: Schlaflose Tage

Kapitel 4 - Abschnitt 01 Der Lehrer für Deutsch und Geschichte Karl Simrock “verspürt wenige Wochen nach seinem sechsunddreißigsten Geburtstag, während einer Unterrichtsstunde,…​ zum ersten Mal im Leben sein Herz.”1(7).

Die Furcht, herzkrank zu sein, hatte sich zwar mit erfreulicher Geschwindigkeit verloren, dafür gewann ein Begleitumstand an Bedeutung: Simrock fühlte sich zum ersten Mal daran erinnert, daß sein Leben nicht ewig dauern werde. (24)

Bis zu jenem Herzschmerz verlief Simrocks Leben in geregelten Bahnen und der geübte Leser erkennt sofort die Symptome der Identitätskrise, den Auslöser für die 'midlife-crisis'. Bei Simrock bewirkt jener Schmerz eine Welle des Selbstmitleides, als er im Radio von den schwarzen, farblosen Träumen einer blinden Frau erfährt. Er weint Tränen der Rührung. “Er versuchte sich vorzustellen, wie anders er gestern noch auf solche Radiosendung reagiert hätte…​” (14) Für Monate sollte dieser Ausbruch von Selbstmitleid, der auch von Simrocks Frau mit ihrem Hinweis auf fünf eigener solcher Herzattacken ihrerseits nicht verhindert werden kann, die einzige Veränderung sein. Simrock wird eingeführt als ein sich ständig beobachtender Mensch, alles bedenkend und analysierend. So weiß er gleich die Träume der Blinden lediglich als Auslöser und nicht Ursache seiner Rührung zu diagnostizieren. Bei der Nachricht, seine Freundin Antonia im Gefängnis besuchen zu können, erfährt das Verhältnis von spontanen Gefühlen und Ratio beinahe schizophrene Züge: “Nachdem er den Brief aus der Hand gelegt hatte, war sein erster Gedanke: Die Freude, die ich gleich empfinden werde!” (135)

4-02 Dem Leser wird es nahezu unmöglich gemacht, sich mit dem Protagonisten zu identifizieren. Zum einen sind es die dargestellten Eigenschaften Simrocks wie z. B. seine 'Kopflastigkeit'. Wenn er zur Tochter mit einem 'Auftrag' im Hinterkopf geht, der da lautet: “Jedes Gefühl von Einsamkeit ersticken, zweitens den Durst des Kindes nach Geborgenheit stillen, schließlich für jede Art der Kommunikation zur Verfügung stehen…​” (12), dann hinterläßt dies beim Leser den Eindruck von Gefühlskälte und Beziehungsunfähigkeit seitens Simrocks. Die “Fröhlichkeit” im Simrock´schen Schlafzimmer basiert auf einer “Ordnung” (15), die die “störenden Gefühle” unterdrücken helfen soll. Eine “Ungesetzlichkeit” konnte vom anderen “auswendig beziffert werden”.

4-03 Zum anderen ist es die Struktur des Romans, in der eine Identifikation mit dem Protagonisten nicht erklärtes Ziel ist. Es erzählt ein personaler Erzähler. Innen- und Außenperspektive wechseln: “Nach dem er den Brief aus der Hand gelegt hatte…​ “ ist Außenperspektive, danach wechselt die Perspektive (s. S. 30). Doch als eine Haupttendenz der personalen Erzählsituation markiert Franzel den Modus Reflektorfigur - im Gegensatz zur Erzählerfigur. Simrock ist zu großen Teilen Reflektor, - der personale Erzähler tritt zurück.

Der epistemologische Unterschied zwischen einer Geschichte, die durch eine Erzählerfigur mitgeteilt oder durch eine Reflektorfigur präsentiert wird, liegt in der Hauptsache darin, daß sich die Erzählerfigur immer bewußt ist, daß sie erzählt, während eine Reflektorfigur solches Bewußtsein völlig fehlt.2

Wolfgang Wülff hatte das Erzählte bereits 'bewältigt' und erzählt in einer überschaubaren und geordneten Weise. Simrock als Reflektor steht in “keinerlei persönlichem Verhältnis zum Leser, er ist daher auch nicht gehalten…​, sich oder dem Leser Rechenschaft darüber zu geben, was von seinem Bewußtsein registriert und was nicht wahrgenommen wird.”3

Diesem Prinzip entsprechend erzählt der Erzähler (mit Außenperspektive) nur die Episoden und Ereignisse, die für Simrocks Erkenntnis- und Identitätsprozeß von herausragender Bedeutung sind. Er braucht diese nicht erzähltechnisch zu begründen mit der Wesentlichkeit, Interessantheit der Teile für das Ganze der Erzählung4. So erscheinen die Sequenzen manchmal ohne Übergang, ohne epische Breite und Details, jedoch aber chronologisch aneinandergereiht. Z. B. wirkt Antonias Fluchtversuch unmotiviert, zumindestens unerwartet. Doch ist durch die personale Erzählsituation nur Simrock Innenperspektive gegönnt; die Welt erscheint durch seine alleinige Sicht mit sich selbst als Zentrum. Er kann die Entscheidungsprozesse Antonias vor der Flucht oder die der Schulbehörde bei seiner Suspendierung nicht wahrnehmen. Nur die Wirkungen auf sein Leben kann er thematisieren. Hinzu kommt, daß manche Ereignisse sich für Simrock etwas kafkaesk darbieten, aus seiner Sicht nicht erklärbar sind. Der stellvertretende Direktor zitiert ihn in sein Büro, ohne ihn aufzuklären, warum (53).

4-04 Für Manfred Durzak ist es eine bewußt einfach erzählte Geschichte “unter Verzicht auf alle literarische Stilisierung”: “kunstlos und bis zur schriftstellerischen Selbstaufgabe gehalten…​”5 An anderer Stelle klingt es weniger verständnisvoll: “Beckers Roman wirkt modellhaft konstruiert…​”6 Kann man die Kritik an der Abfolge der Ereignisse ohne Entwicklungstendenzen mit der personalen Erzählsituation, und die gestelzte Schriftsprache mit der Art und Weise des Simrockschen Reflektierens erklären, verhält es sich mit dem Vorwurf, “daß es die Themen sind, die berühren, nicht die Figuren”7 ganz anders. An gleicher Stelle heißt es, Simrock gerate zum “Demonstrationsobjekt mit beschränkter Haftung”, und viele seiner Sätze “bleiben Spruchbänder”. Ist die bestehende Gesellschaft der eigentliche Gegenstand des Romans und die Identitätssuche Simrocks lediglich das Vehikel zu ihrer Zustandsbeschreibung?

4-05 Informationen über Simrocks Kindheit, sein Elternhaus und dessen soziale Herkunft werden im Buch nicht gegeben. Der Leser erfährt nur, daß er im Kleinstadtmilieu aufwuchs und er seine Mutter “nicht ausstehen kann.” (44)

Bis tief in die Kindheit zurück fand er kaum angenehme Erinnerungen an seine Mutter, außer solchen, die mit Dienstleistungen zu tun hatten. Zum Greifen nahe dagegen waren Geschrei und Kälte, Auseinandersetzungen…​ (44)

Autoritäre Verhältnisse werden den Helden zu einem gewissen Grad geprägt haben. Seine Vergangenheit bezieht er jedenfalls nicht in den Prozeß der Identitätssuche mit ein, wohl wissend, daß er seiner Mutter Unrecht tut.

Manchmal nahm er sie vor sich selbst in Schutz, indem er sich vorwarf, sie immer nur als fertige Frau gesehen zu haben und nie als Wesen mit einer Geschichte, die zu erforschen er nie versucht hatte. Bei seinen Besuchen sprachen sie meist über Dinge, über die es keine Meinungsverschiedenheiten geben konnte. (45)

4-06 Im privaten Leben, hier besonders im Verhältnis zu seiner Mutter, verhält sich Simrock angepaßt, Autoritäten achtend - seien sie auch schon vom Sockel gestürzt. Der Leser kommt nicht umhin, sein Verhalten im Privatleben bei der Betrachtung von Simrocks “Konzept für den Neubeginn” (26) zu berücksichtigen. Wie es seine etwas pedantische Art ist, entwickelt er vor der Tat ein Programm. Die wichtigsten Schlagworte darin sind

Standpunkte revidieren und verteidigen, Nichtübereinstimmung und Widerspruch, innere Grenzen und Ansichten (26f):

Sich so an einer öffentlichen Angelegenheit beteiligen, an der bisher beteiligt gewesen zu sein man in seinen ehrlichen Augenblicken nie recht geglaubt hat. (28)

Erst der letzte Satz im drei Seiten umfassenden Konzept für den Neubeginn erwähnt den Zweck der Selbsterkenntnis und Identitätssuche:

Seine Ansichten finden, endlich seine Ansichten aus dem großen Haufen von Ansichten herausfinden, um gelassen sagen zu können, wer man ist. (29)

Identität, wenn es sie für Simrock gibt, sucht er im Feld “öffentlicher Angelegenheiten” über einen “Standpunkt” unter der Gefahr der “Nichtübereinstimmung”. Eine Suche basierend auf rationalen Fragestellungen ausschließlich im öffentlichen Leben. Wichtig zu vermerken ist, daß Simrock sich der Gefahr aussetzt, ideologisch zu denken; von einer Idee ausgehend sein Handeln auszurichten und unterzuordnen.

Den Vorstoß zu dieser Grenze für wichtig halten, das Wichtigste überhaupt. Sich nicht aufhalten lassen durch den üblichen Vorwurf, von Eigenliebe und Selbstsucht getrieben zu sein. Vielmehr daran glauben, daß erst im Grenzgebiet geheimnisvoll die Kraft wächst…​ (28)

Indem der Held diese theoretischen und auch nachvollziehbaren Maßstäbe zu Beginn des Romans setzt, unterliegt er im folgenden der vorwiegend rationalen, kritischen Beobachtung des Lesers.

4-07 Simrocks erste Handlung ist die Trennung von seiner Familie und der Einzug bei seiner Mutter, was das Klischee der midlife crisis eher bestätigt. Noch vor der Aufstellung seines Konzeptes setzt er sich dem Verdacht aus, daß es ihm lediglich nach ein wenig Abwechslung giert.

Er dachte: In Wirklichkeit quält mich ja nicht, daß die Zahl der mir verbleibenden Jahre ständig abnimmt, sondern daß ich diese Jahre, wenn nichts Entscheidendes geschieht, auf eine so belanglose Weise verbringen werde. (25)

Zu seiner Frau Ruth sagt er bei seiner Trennung ähnliches. “Ich sage mir immer wieder, daß die Aussicht auf Unvorhergesehenes sehr gering ist. In unserer Ehe aber habe ich überhaupt keine Hoffnung.” (36) Zu einem klaren Bekenntnis, daß er nichts mehr für sie empfindet, ist er nicht fähig. Seine Frau, ebenfalls als Vernunftsmensch gezeichnet, hält ihm die aus ihrer Sicht wahren Gründe vor Augen: “Weil du so unglücklich darüber bist, daß sie dir in der Schule das Rückgrat gebrochen haben, trennst du dich von uns. Du hältst die Trennung für einen ersten Schritt …​ (39). Simrock ist fortan jeder Verantwortung für die Familie entbunden, ein eventuelles Alibi für falsche Rücksichten beseitigt.

4-08 Ein Echo auf seine Person bekommt Simrock beim Versuch, bei drei Bekannten wegen vorübergehender Unterkunft vorzusprechen. Vergeblich. Er zieht zum beiderseitigen praktischen Nutzen bei seiner Mutter ein. Durch die Reduzierung seines Privatlebens auf beinahe eine Hausmeisterstelle gilt seine ganze Aufmerksamkeit jetzt der Schule.

4-09 Zum 1. Mai erscheinen zur Demonstration nur neun Schüler aus seiner Klasse. Grund für den stellvertretenden Direktor Kabitzke, Simrock zum Rapport zu bestellen. Kabitzke sieht in Simrocks Hinweis auf die Freiwilligkeit der Teilnehme den Schülern gegenüber eine “Kampfansage” (54). In Eulenspiegelmanier antwortet er:

Wenn ich deine Worte richtig deute, dann befand ich mich jetzt in einem Irrtum. Zum nächsten Anlaß werde ich der Klasse sagen, die Teilnahme an Demonstrationen sei doch Pflicht, jeder habe entweder zu kommen oder eine Entschuldigung vorzulegen. Wenn es Rückfragen geben sollte, werde ich mich auf dich berufen. (54f)

So sieht Patricia A. Simpson Beckers Hauptanliegen in “problems of definition”, denn Simrock “probes the gap between theory and reality”8 .

In Schlaflose Tage, Becker´s use of understatement points to the exaggerations and hyperbole of official state rhetoric. In this novel, which derives its meaning from the interplay of irony and pathos, Becker raises questions about the quest for the truth in both semantic and epistemological sense. He focusses on the capacity of language to tell the truth and on the ability of realism, specifically Socialist Realism in literature, to represent that truth. Following the advice given by Brecht in his poem “Lob des Zweifels,” Becker´s central figure carefully examines the authenticity of his words in order to establish the measure of their truth.9

4-10 Als Simrock aus pragmatischen Erwägungen der Schulleitung einen Brief voller Halbwahrheiten schreibt, um eine Arbeitsgenehmigung für die Ferien zu erhalten, ist er sich dieser Halbwahrheiten bewußt. Er muß als grotesker Held vor dem Lehrerkollegium herhalten:

Eine grimmige Lust überkam ihn, sich zu melden und in das Wohlwollen hinein zu sagen, er ziehe seinen Antrag zurück, denn: er habe nur demonstrieren wollen, wie kinderleicht es sei, mit Gesten, die jedem zur Verfügung stünden, sich Anerkennung zu verschaffen und für einen guten Mann gehalten zu werden. (80)

Tatsächlich hätte eine spätere Krankschreibung oder eine andere Ausrede es bei einer “Geste” belassen können. Simrock, in dieser Frage noch abhängig von seinen Vorgesetzten, verschweigt seinen wahren Beweggründe. Aber noch ein anderes Problem wird in dieser Episode akut: wer ist der Adressat bei Simrocks Suche nach (oder gar Etablierung!?) der wahren Bedeutung der Wörter? Denn für Simpson ist klar, daß Simrocks Suche nach Identität dafür in den Hintergrund treten muß. Für sie ist er ein “representative character on an allogorical journey through the unstable middle ground between theory and practice…​”10 Bei seinen Lehrerkollegen wird er für seinen Wunsch, in den Ferien als “Urlaub zur Weiterbildung (sic!) eine körperliche Arbeit zu tun” (76) kaum auf Verständnis, geschweige Bewunderung stoßen. Sie können nicht Adressat seiner Denkbemühungen sein. Auch nicht spätere Kollegen bei Simrocks späteren Eintritt in das physische Arbeitsleben. Seine naiven Vorstellungen von körperlicher Arbeit basieren auf den Darstellungen “landesüblicher Kunst” (95), wogegen Antonia, seine neue Lebensgefährtin, den Charakter von Arbeit schon nach ein paar Wochen Studentenarbeitseinsatz zu erfassen in der Lage ist. Wenn Becker also in seinem “understatement” (Simpson) dermaßen weit geht, kann man tatsächlich davon ausgehen, daß in erster Linie die verlogene SED-Rhetorik im Mittelpunkt des Interesses, des Bloßstellens steht.

4-11 An einer Stelle läßt Becker seinen Protagonisten sich (in beabsichtigter Untertreibung?) folgendermaßen charakterisieren:

Dann …​ überfiel ihn der Verdacht, sein ganzes Unglück ergebe sich aus einer kläglichen Meinungslosigkeit. Sooft er in die Situation gekommen war, eine Meinung vorzutragen, habe er stets, so mußte er denken, die von den anderen erwartete gewählt. So hatte er mit der Zeit die Fähigkeit verloren, eigene Meinungen zu bilden. (65)

In Loests Es geht seinen Gang…​ wirft der ältere Genosse Huppel dem Helden Wülff vor, ein Spießer zu sein. Wülf denkt sich "Immer mach dir deine Theorien. Und ich mach mir meine." (213) Wülff ist, wie alle durchschnittlich begabten und im Leben stehenden Menschen in der Lage, sich über fast alle Erscheinungen eine Meinung zu bilden. Die Frage für ihn ist lediglich, ob er sie immer laut aussprechen sollte. Wenn Simrock selbst die Eigenschaft der Meinungsbildung abhanden gekommen war, dann war er der Einschätzung von Hans-Joachim Maaz nach der ideale Lehrer:

Wir Ärzte und Psychologen sind …​ oft schuldig geworden, nicht genügend eingeklagt zu haben, daß das System der Volksbildung durch und durch krank und deformierend war, und zwar für Schüler und Lehrer, und daß bereits häufig die Zulassung zum Lehrerstudium besonders labile Menschen bevorzugte, die unsicher und eingeschüchtert waren, so daß sie dem System als staatstreue und ergebene Diener zum Vorbild für den Nachwuchs geeignet erschien.11

Auf den Versuch der Schulrätin am Ende des Buches, Simrock in einem Ritual der Selbstkritik jegliche Selbstachtung zu nehmen, antwortet letzterer: “Wie können Sie sich einen Lehrer wünschen, der auf solche Angebote einzugehen bereit ist?” (156) Simrock hat die o. g. Praxis der Volksbildung durchschaut und verweigert sich ihr.

4-12 Thomas Bremer schrieb 1978, daß man

nicht so tun dürfe, als gäbe es all dies in der Bundesrepublik nicht; das Gedicht dürfte vielleicht nicht von Brecht, es müßte halt von Erich Fried stammen…​ . Was ich damit sagen will, ist: es ist eigentlich nicht so, daß Simrock mit dem Sozialismus kollidiert, auch nicht mit dessen »real existierender Deformation«. Simrock kollidiert vielmehr mit einem idealistischen Programm an der Wirklichkeit, und dies allerdings (in bezug auf seinen Unterricht, nicht auf die Republikflucht natürlich) könnte ihm in beiden deutschen Staaten passieren.12

Es ist in der Tat ein idealistisches Programm, daß ihn in jeder schulischen Wirklichkeit scheitern ließe. Doch auch Karl Simrock scheitert beim Handeln selbst an seinem hohen theoretischen Anspruch. Die Kluft zwischen Theorie und Praxis klafft bei ihm ebenso weit wie beim sozialistischen Staat.

4-13 Simrock schreibt sich selbst ein Memorandum, in dem er theoretisch die Eigenschaften eines guten Lehrers fixiert. Zu dieser Zeit wohnt er bei seiner Mutter und reicht so, bewußt oder unbewußt, eine praktische, gelebte Interpretation seiner Lehrer-Theoreme nach. Diese vorgelebte Interpretation soll hier der Besprechung seiner Ideen zum besseren Verstehen vorangestellt werden.

Seine Mutter klopfte und rief die Zeit ins Zimmer. Simrock nahm sich vor, die kommenden Verrichtungen ehrlich zu tun, ohne sich zu verstellen, und schon beim Unwichtigen anzufangen. Es gelang ihm auch, die Mutter in der Küche so zu begrüßen, daß ihr kein Unterschied zu anderen Morgen auffiel. (62)

Für den Leser in seiner kritischen Distanz ist der Widerspruch innerhalb dieses Abschnitts offensichtlich. Es handelt sich um das bekannte “Sei spontan!”-Paradoxon. In dem Moment, wo Simrock sich vornimmt, authentisch und spontan zu handeln, kann er es schon nicht mehr.

4-14 Thomas Bremer schreibt: “Wo Simrock Brechts Gedicht vom “Lob des Zweifels” behandelt und für seine Schüler, mit einem Ausdruck Adornos, eine Erziehung zur Mündigkeit erreichen will, da stößt er auf jenen Sozialismus, dem Nachdenken fremd geblieben ist.” Dass es nicht ausschließlich der Sozialismus ist, woran Simrock scheitert, wurde schon erwähnt. Bremer vernachlässigt nur die Gründe, warum dem so ist. Erziehung ist in ihrem Wesen autoritär. Ein Stärkerer hat die Macht, den Schwächeren zu erziehen. So weisen Erwachsene die Erziehungsversuche anderer Erwachsener brüskiert zurück, da sie sie als demütigend empfinden müssen. Kinder dagegen werden generell als erziehungsbedürftig eingestuft, seien sie (z.B. im Gegensatz zu einem brutalen, betrunkenen Erwachsenen) auch noch so vernünftig. Erst einmal in die Position des Schwächeren gesetzt (Entmündigung), folgt die Erziehung zur Mündigkeit. Doch auch das ist ein einfaches Paradoxon: “Sei mündig!” oder “Sei autonom!” kann nicht funktionieren. Es gibt keine 'Erziehung zur Mündigkeit'. Die Mündigkeit und Autonomie kann einem nur ge- oder verwehrt werden. Die Problematik soll hier nur angerissen werden, doch ist sie wichtig, da sie eine Ursache von Simrocks eigener Divergenz von Wort und Tat darstellt.

4-15 Simrock schreibt sich neun Eigenschaften eines guten Lehrers auf. Vier von ihnen haben herausragende Bedeutung. Zwei der Theoreme sind in ihrer Bedeutung und Konsequenz gleich:

Viertens: Er muß sich den Kindern verantwortlich fühlen, mehr als der Schulbehörde. Über den vielgebrauchten Satz, die Schule sei dazu da, die Kinder aufs Leben vor-zubereiten, darf er nicht vergessen, daß die Gegenwart ja schon das Leben der Kinder ist. Daß sie schließlich nicht Tote sind, die erst zum Leben erweckt werden müssen. (58) 7. Er muß neugierig auf die verschiedenen Anlagen der Kinder sein, er muß sie erkennen wollen. Er darf nicht ein fertiges Kind im Kopf haben, an das er alle heranführen will, gebrochen und gleich. (59)

Simrock ist bereit, die Kinder sofort zu akzeptieren, so wie sie sind. Er entledigt sich des pädagogischen Denkens, wonach er sich bei jedem Wort und jeder Tat Gedanken machen muß, wie diese einmal wirken könnten in ein paar Jahren! Er ist bereit, sich den Kindern gegenüber so zu benehmen wie zu Erwachsenen: spontan und authentisch. Für ihn sind die Kinder nicht mehr Erziehungsobjekte, die an “ein fertiges Kind im Kopf” herangeführt werden sollen. Mit anderen Worten, er lehnt den Erziehungsauftrag, wie er auch heute noch festgeschrieben ist, ab. Für ihn gilt es nur noch, Menschlichkeit und Solidarität vorzuleben, als Angebot zur Nachahmung.

4-16 Schon kurz vor seinem Memorandum erwähnt er, daß der Bildungsauftrag im Mittelpunkt steht.

Simrock ging davon aus, daß man sich zueinander in einer Art Arbeitsverhältnis befand, dessen Wirksamkeit einzig daran bemessen werden konnte, wie viele der Lehrsätze sich in den Kinderköpfen einnisteten. (56)

Doch ist Simrock schon zu lange Pädagoge, als daß er das pädagogische Denken so schnell abschütteln könnte. Eines Tages erscheint ein NVA-Offizier in der Klasse, “der sich bereit gefunden hatte, auf Schülerfragen zu antworten.” (137) Beckers Ironie erfährt nicht nur durch die Tatsache, daß die Schüler gar keine Fragen stellen, eine Steigerung. Auch so wäre die Anmaßung durch Beckers trockenem “understatement” (Simpson) bloßgestellt. Simrock macht sich über die Schweigsamkeit seiner Schüler Vorwürfe:

…​es war nicht zuletzt die Schuld seiner Erziehung, daß die Kinder in einem so wichtigen Moment schwiegen. Dies sei, dachte er, in wenigen Sekunden natürlich nicht aus der Welt zu schaffen, doch könne er die Folgen ein wenig mildern, indem er selbst die Fragen stelle…​ (138f)

Hier ist Simrock wieder ganz Pädagoge, der sich für das (Nicht)Handeln seiner Schüler verantwortlich fühlt, als ob er sie in irgend einer Weise (seiner) formen könnte. Becker geht hier wieder vom Lehrerbild des “Schaffens am Menschen” von Anna Seghers 13 aus. Sein Simrock leidet an einer Selbstüberschätzung seines Berufstandes. Man mag sich über die staatstragende Funktion des Lehrers streiten wie man will, in der DDR sind trotzdem nicht alle Kinder Kommunisten geworden…​ Diese Überschätzung der Funktion des Lehrers in der DDR wird für Simrock auf groteske Weise wirksam:

Ein entlassener Lehrer war ein möglicher Unruhestifter, der am wirkungsvollsten dadurch unschädlich zu machen war, daß man ihn in den Schulbetrieb zurückführte. (155)

Wie die “Unschädlichkeit” u. a. funktioniert, entblößt Simrock, indem er seinen Vorgesetzten Kabitzke beim Wort nimmt. Er gibt Kabitzke gegenüber vor, sich im Ministerium über seine eben ausgesprochene Kündigung zu beschweren mit dem Hinweis, daß sein Vorgesetzter Kabitzke ebenso denkt. Letzterer würde seine Kündigung riskieren, und jammert. Diese Szene zeigt, daß die Kinder nur das letzte Glied in einer Kette sind, der Lehrer ist ebenfalls nicht frei im Handeln.

4-17 Aber selbst gegenüber Antonia vergißt Simrock seine Theorien. In der Praxis ist er noch nicht bereit, auf Erziehung zu verzichten. Genauer: Antonia so zu akzeptieren, wie sie ist.

Während Antonia neben ihm in dem engen Bett schlief, spürte er eine missionarische Vorfreude bei dem Gedanken, sie zu verwandeln. Er dachte: Ich werde noch viel an ihr finden, das ich ändern möchte, und das ist eine gute Aussicht. (75)

4-18 Simrock erwähnt eine weitere Eigenschaft eines guten Lehrers, nämlich “gespielte Anteilnahme ist schlimmer als eingestandene Interesselosigkeit, denn sie verführt Kinder zu Offenbarungen vor verschlossenen Ohren…​ “ (58). Seiner Tochter Leonie gegenüber hatte er des öfteren nicht diese gute Eigenschaft…​ (s. S. 28).

4-19 Sein letztes Theorem unterstreicht die Unmöglichkeit einer Durchsetzung seiner Ideen:

Neuntens: Sich selbst darf er über keine Auseinandersetzung stellen, also auch nicht über den Zweifel. Er hat gewonnen, wenn die Kinder ihn akzeptieren, obwohl sie ihn ungestraft ablehnen können. (59)

Es ist ein Bekenntnis zur partnerschaftlichen Arbeit. Die eventuelle Ablehnung der Kinder wird sich innerhalb der Institution Schule wohl in Grenzen halten. Simrock will dieses Konzept mit den Schülern nach dem Unterricht besprechen, will sie fragen, wie sie den Unterricht wollen und wie nicht. Keiner der Schüler erscheint (vgl. 121). Er wird auch in den Schülern keine Verbündeten für seine Ideen finden. Simrock will Freiheit 'verordnen'. Doch Freiheit kann man nicht geben, sondern man kann sie bei anderen nur achten und respektieren; und sich selbst kann man sie nur nehmen. “Seid frei!” heißt für die Schüler wieder nur, einen Befehl zu befolgen, und schon sind sie nicht mehr frei. Hinzu kommt, dass die Schüler mit der neuen äußeren Freiheit, der Selbständigkeit im Handeln, nicht mehr selbstverantwortlich umgehen können, weil sie schon sehr früh in ihrer inneren Entscheidungsfreiheit beschnitten wurden. Verlangen sie nun indirekt nach Autoritäten, heißt das nichts anderes, als daß sie bereits einen autoritären Charakter haben, nicht mehr in demokratischen Dimensionen denken können.

4-20 Simrock hatte vor den Sommerferien Brechts Gedicht Lob des Zweifels behandelt. Bald sieht er sich mit dem Petzbrief eines Vaters konfrontiert. Dieser steht unverhohlen zu seinen Besitzansprüchen gegenüber seinem Sohn: “Wenn Herr Simrock seine Theorien unbedingt ausprobieren will, dann soll er das an seinen eigenen Kindern tun, aber nicht an unseren.” (117) Auch in Görlichs Eine Anzeige in der Zeitung (1978) bekommt ein denunziatorischer Brief an den Schuldirektor eine wichtige Bedeutung. Das Umfeld der Schule scheint für Denunziation sehr anfällig zu sein. Zensuren müssen wohl sein, kommt aber nicht das Beharren der Schule auf eine Unterschrift der Eltern nicht einer Denunziation gleich? Verpetzte nicht auch der Schüler Simrock beim Vater? Petzerei ist sicheres Symptom für Mißtrauen und fehlender Eigenverantwortlichkeit aller Beteiligten an der Institution Schule.

4-21 Simrock scheitert “als guter Lehrer” im Schuldienst. Beim Entlassungsgespräch mit der Schulrätin muß er erkennen, dass eine Stellungnahme seinerseits unnötig ist:

Simrock gingen verschiedene Bemerkungen durch den Sinn, ironische, grobe und eine sachliche. Bevor er sich jedoch entscheiden konnte, glaubte er, jede Diskussion sei sinnlos, weil die Schulrätin als eine festgelegte Person vor ihm saß…​ Er sagte: »Selbst wenn ich sie davon überzeugen würde, daß die Anschuldigungen gegen mich aus der Luft gegriffen sind, könnten sie meine Entlassung nicht mehr rückgängig machen.« (144)

Kommunikation ist nicht mehr möglich, die Entscheidungen sind längst gefällt. Hier muß Simrock spüren, wie es ist, wenn der Gegenüber, der Partner nicht mehr in die Problemlösung mit einbezogen wird, ein Meinungsaustausch nicht mehr stattfindet. Es war einmal umgekehrt: Simrock wollte bei der Trennung von seiner Frau deren Meinung hören. Die Sinnlosigkeit von Worten spürend antwortete Ruth: “Das ist praktisch ohne Bedeutung. Am Ende setzt sich immer der durch, der die Pistole in der Hand hält.” (38)

4-22 Simrock geht von sich aus als Sozialist, der sich “eine innigere Beziehung zum Kommunismus wünscht” (66). Er sagt zu Antonia, die ohne Politik sehr gut zu Recht kommt:

»Davon, wie Sozialismus um uns herum betrieben wird, sollte sich ein gescheiter Sozialist nicht abhalten lassen.« (74)

Klaus Höpke äußerte sich auf der Leipziger Buchmesse 1978, wo Sängerin Gisela May zur Eröffnung Brechts Lob des Lernens zum Vortrage brachte, ablehnend zu Beckers Buch 14. Er hielt sich wohl für einen “Betreiber” und war in der Lage, den Umkehrschluß zu ziehen. Antonia erwidert Simrock, sie sei “nur ein gescheiter Mensch” und ihre “Interesselosigkeit ist die einzige Methode, sich zu schützen.” (74) Interesselosigkeit heißt bei ihr, daß sie erfahren mußte, was eintritt, wenn man die “falschen Meinungen laut vertritt”. Ihre Interesselosigkeit in politischen, also indirekt beruflichen Dingen, ist aktiver Natur und nicht resignierender Art wie die Wülffs und seiner Mitmenschen aus dem Leipziger Osten. Im Gegensatz zu Heins Ärztin Claudia verschließt sie sich aber nur dem politisierten öffentlichen Leben. Sie träumt sich eine Gesellschaft mit “genügend Inseln der Abgeschiedenheit”:

In der hiesigen Gesellschaft aber seien solche Inseln für gewöhnliche Sterbliche unerreichbar, und der tägliche Zwang des Miteinanderverkehren-Müssens sei die traurige Regel. (74)

Mit Simrock, so muß der Leser annehmen, ist sie gern zusammen. Ausgerechnet Antonia flößt Simrock bei dessen Entblößungsfeldzug gegen die Scheinheiligkeit der Worte Kraft ein. Mit ihrem im wahrsten Sinne des Wortes spontanen “Grenzübertritt” in Ungarn und ihrer anschließenden Haftstrafe bestärkt sie Simrock, bis zu seinen inneren Grenzen (vgl. 28) vorzustoßen. Letzterer hat im Zusammenhang mit Antonias Verurteilung genug Bekanntschaft mit kafkaesken Uniformierten gemacht15 , so daß es ihm eine Freude ist, in der Deutschstunde anstelle von Heinrich Manns Untertanen einen NVA-Offizier vorzuführen. Die Demontage des Offiziers führt zu Simrocks Entlassung, nachdem dieser, anstelle zu argumentieren, Simrock bei der Schulleitung denunziert hatte.

4-23 Ein weiterer Mensch ist in der Lage, Simrock Mut und Lust aufs Leben zu spenden: sein Arbeitskollege Boris aus der Brotfabrik, wo Simrock in den Ferien arbeitete und den er nach seiner Entlassung aus dem Schuldienst wieder aufsucht. Boris ist genauso wie Antonia bereit, Simrock so zu akzeptieren, wie er ist. Er stellt keine unnötigen Fragen, warum Simrock da ist usw.. Obwohl Simrock es ihm manchmal schwer macht. So versucht er, Boris von der Richtigkeit der “Selbstverpflichtungen” zu überzeugen. Boris reagiert spontan und in seinen Worten deftig: “er möge ihn in aller Freundschaft am Arsch lecken.” (100). Dennoch droht er nicht mit “Liebesentzug” (28), wie von Simrock vor seinem Konzept befürchtet. Simrock macht die Erfahrung, daß “Liebesentzug” nur von autoritären Charakteren und Behörden ausgeht, aber nicht von Menschen, die ihn gleichberechtigt akzeptieren und vorbehaltlos mögen und lieben. Simrock entdeckt an sich selbst gegenüber Boris seine Gefühle:

Daß ich ihn mag, hat nichts damit zu tun, daß ich mir vorgenommen habe, Arbeiter zu mögen. (97)

Dieses Bewußtsein könnte für den Helden der Anfang vom Ende seines ideologischen Denkens sein. Vielleicht wird er sich zuerst Antonia und Boris gegenüber authentisch und spontan verhalten, ohne vorgefertigte Idee, wie es sein Konzept zum Vormarsch an innere Grenzen war.

4-24 Ein Bild über körperliche Arbeit hat er sich selbst gemacht und vertraut ihm mehr als das der “landesüblichen Kunst”. Zum Ende muß Simrock sehen, daß seine Lage ihm vorkommt “wie das Resultat von Umständen, die außerhalb seiner Verantwortung lagen…​” Es stört ihn an der “Zwangsläufigkeit seiner Handlungen das Schicksalhafte” (157). Wenn Jürgen Wallmann16 schreibt, daß der einzelne nur zählt, wenn er seine Identität an die Prinzipien des Sozialismus abtritt, könnte man sagen, Simrock hat die seine bewahrt. Bewahrt für den 'wahren Sozialismus'? Ganz gleich, für Simrock war der soziale Abstieg “ein Gewinn”:

Den größten Ekel hat mir wahrscheinlich gemacht, daß ich mich nie gewehrt habe. Ich habe getan, dachte er, als sei es nicht meine Sache, mich gegen Bevormundung und Ungerechtigkeiten aufzulehnen. Und das bedeutet: Ich habe mich nicht zuständig gefühlt für mich selbst. (157)

Simrock hat seine Identität nach einem langen Desillusionierungsprozeß gefunden, der Leser muß es ihm glauben. Daß diese Desillusionierung nicht nur dem “betriebenen Sozialismus” geschuldet ist, zeigen die fernbleibenden Kinder auf seine Verbesserungsvorschläge für den Unterricht an. Hier scheitert er mit einem idealistischen Programm an der (Schul)Wirklichkeit.

4-25 Simrock neigt zu einer Trennung von öffentlichen und privaten Leben. Sein Bestreben, identisch mit sich selbst zu sein, bleibt ausschließlich “auf öffentliche Angelegenheiten” beschränkt. Zudem denkt er stark in ideologischen Dimensionen, geht zu sehr von Ideen aus, auch wenn sie noch so gut gemeint sind. 'Ideologisch denken' meint hier das Setzen einer Idee über alles andere. Vergleichbar wäre dieses Denken mit der Einführung der heutigen Gesamtschule, dessen Idee es war, allen Kindern gleiche Bildungschancen zu bieten. Es blieb bei einer (gutgemeinten) Ideologie, da sie sich um die Praxis der Kinder nicht kümmerte.

4-26 Antonia und Boris können Garant dafür sein, daß Simrock zu einer individuellen Humanität findet. Ohne sie hatte er noch Schwierigkeiten, sich im Arbeitsleben als Brotlieferant zurechtzufinden. Der Roman kann nur deshalb 'funktionieren', weil Becker dem Leser in Simrock einen Protagonisten vorstellt, der sich “nicht mehr an seine Ideale als Student erinnert” (57), der es sogar zur völligen “Meinungslosigkeit” (sic!) gebracht hatte. Ein Mensch mit diesen Voraussetzungen muß unweigerlich die Rebellion gegen staatliche und behördliche Bevormundung als identitätsstiftend betrachten. Wülff, der in einer weniger autoritären Umgebung groß wurde, ist darauf nicht angewiesen. Für ihn zählen andere Werte. Mögen diese im Urteil des Lesers auch noch so umstritten sein: Wülff ist nie in die Nähe gerückt, als Protagonist zu einem “Demonstrationsobjekt mit beschränkter Haftung”17 reduziert zu werden.

4-27 Klaus Höpke schrieb in einem Beitrag zu Günter Görlichs im selben Jahr erschienenen Roman Eine Anzeige in der Zeitung:

Es geht um die Offenheit im Aussprechen eigener Freuden und Sorgen, Urteile und Ansichten, die den Kommunisten von jeher eigen ist. Es geht um die Aufrichtigkeit und Ehrlichkeit, deren weitere Durchsetzung in der Gesellschaft einer der Grundprozesse menschlichen Zusammenlebens im realen Sozialismus ist.18

Autor und Anlaß entlarven sich selbst. Offen bleibt, ob Simrock erkennt, daß für o.g. Eigenschaften jedermann selbst verantwortlich ist, egal in welcher Gesellschaft er lebt. Jeder selbst bestimmt in ihr das Maß an Solidarität und Mitmenschlichkeit, keine Ideologie oder gar Utopie.

1 Becker, Jurek: Schlaflose Tage, Frankfurt a. M. 1994 (suhrkamp taschenbuch 626), alle Zitate folgen dieser Ausgabe

2 Stanzel, Franz K.: Theorie des Erzählens, Göttingen 1995, S. 197

3 ebd. S. 205

4 vgl. ebd. S. 207

5 Durzak, Manfred: Der deutsche Roman der Gegenwart, Stuttgart u.a. 1979, S. 423

6 Grunenberg, Antonia: Aufbruch der inneren Mauer. Politik und Kultur in der DDR 1971-1990, Bremen 1990, S. 170

7 Lüdke-Haertel, S./ Töteberg, M.: Jurek Becker. In: Kritisches Lexikon zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Hrsg. Heinz Ludwig Arnold. München 1978ff, S. 6

8 Simpson, Patricia A.: The Production of Meaning in Jurek Becker´s Schlaflose Tage. In: Seminar: A Journal of Germanic Studies, Vol. 27, Number 2, May 1991, S. 160 u. 166

9 Simpson, Patricia A.: The Production of Meaning in Jurek Becker´s Schlaflose Tage. In: Seminar: A Journal of Germanic Studies, Vol. 27, Number 2, May 1991, S. 160 u. 166

10 ebd. S. 166

11 Maaz, Hans Joachim: Der Gefühlsstau. Ein Psychogramm der DDR. München 1992, S. 27

12 Bremer, Thomas: Roman eines Störenfrieds. In: Neue Rundschau, 89. Jg, H.3/1978, S. 476

13 Schachtsiek-Freitag, Norbert: »Ich werde unbequem sein müssen« Lehrerporträts in neuerer DDR-Prosa. In: Die DDR-Gesellschaft im Spiegel ihrer Literatur, Gisela Helwig (Hrg), Köln 1986, S. 114

14 vgl. Wallmann, Jürgen P.: Zur Leipziger Buchmesse 1978. In: Deutschland-Archiv, H.4/1978, Köln 1978, S. 344

15 zu inhaltlichen und formellen Parallelen mit Kafka siehe: Wieczorek, John P.: Irreführung durch Erzählperspektive? The East German Novels of Jurek Becker. In: The Modern Language Review, Vol. 85, Part 3, July 1990

16 vgl. Jürgen Wallmann, J. Becker: Schlaflose Tage, Neue Deutsche Hefte, Jg. 25, H.1/1978

17 Lüdke, W. Martin: Demonstrationsobjekt mit beschränkter Haftung. In: Frankfurter Rundschau, 27. 5. 1978

18 Höpke, Klaus: Günter Görlich: Eine Anzeige in der Zeitung. In: Kritik ´78 - Rezensionen zur DDR-Literatur, Halle Leipzig 1979, S. 39

Monika Maron: Flugasche

Kapitel 5 - Abschnitt 01 Den Protagonisten der ersten beiden Werke ging es um Findung oder Wahrung ihrer Identität, ohne dabei von Selbstzweifeln sonderlich geplagt zu werden. Mit der Journalistin Josefa Nadler, die von der Redaktion ihres Wochenblattes zu einer Reportage nach B. geschickt wird, ändert sich das: Findung, Wahrung und drohender Verlust der Identität sind keine eindimensionalen Prozesse, die allein als Josefas Reaktionen auf die Einflüsse der Gesellschaft, insbesondere die berufsbedingten, gedeutet werden können. Ihre psychische Verfassung ist genauso wie ihre Lebensverhältnisse Auslöser für Selbstbewußtsein und Selbstzweifel in der Bestimmung dessen, was die Protagonistin die Übereinstimmung der “ideellen Biographie und ihrer tätigen Verwirklichung” (99) nennt.

5-02 Die Umweltproblematik tritt im Buch inhaltlich sehr schnell zugunsten anderer Fragestellungen zurück. Sie taucht erst wieder zum Ende des Buches mit der Verkündung des “Höchsten Rates” zur Stillegung des Kraftwerkes auf, um dort auch nur als Abschlußbild von etwas anderem zu dienen: der sozialistischen Demokratie und ihrer Willkürlichkeit. Die Charakterisierung der “Prinzipien der sozialistischen Demokratie” (48) geraten zügig in den Vordergrund. Naiv fragt Josefa einen Heizer, warum er sich nicht gegen das alte Kraftwerk wehre. Dieser nennt sich selbst eines “kleines Licht” (51) und verweist auf den Generaldirektor. Über den Vorwurf, dass er, der Heizer, die “ganze Demokratie verdirbt”, kann er nur lachen:

Seinen Generaldirektor könne der Minister mit ein paar Sätzen zur Ordnung und Disziplin rufen, ein Telefonat oder ein Brief, und dann ist Ruhe. Was soll ein Generaldirektor schon machen, wenn er Generaldirektor bleiben will? (51) 1

Der Heizer hat, so gesehen, nichts zu verlieren. Doch Josefa wird nie sicher erfahren, ob er bereit zum Handeln ist und einen Brief an den Minister schreiben wird. Der Heizer verunfallt Tage später tödlich.

5-03 Auch bei Josefas unmittelbarer Vorgesetzten in der Redaktion, Luise, begründet sich der Opportunismus ähnlich wie beim Generaldirektor. Ihr legt Josefa ihren ungeschönten Artikel vor und weigert sich, ihn zu retuschieren. Für Luise ist das aber der alltägliche Weg, denn “Zeitung ist so” (75).

Dann sei konsequent. Dann nutze die Entscheidungsfreiheit, die du hast. Geh in einen Betrieb, lern einen Beruf, von mir aus mach noch deinen Ingenieur. Intelligent genug bist du, jung genug auch. Kein Mensch zwingt dich, jeden Tag auch noch zu Papier zu bringen, was dir so zweifelhaft ist. (81)

Luise weiß, dass sie keine andere Zeitung als die geschönte machen kann, ohne die Gefahr einer Kündigung zu riskieren. Doch nicht nur ihr Alter hat ihre “Entscheidungsfreiheit” dahingehend beeinflußt. Was sie Josefa vorwirft, gilt uneingeschränkt auch für sie:

Du willst deine Privilegien behalten, und sei es nur das eine: eine Arbeit zu haben, die Spaß macht. Hör mal, Marx hat schon gewußt, warum er auf das Proletariat gesetzt hat und um Himmels willen nicht auf die Intellektuellen. Du hast eben mehr zu verlieren als deine Ketten. Da erträgt man das bißchen Unfreiheit schon, zumindestens leichter als den Verlust der Privilegien. (83)

5-04 Josefa faßt in lakonischem Spott zusammen: “Bitte, Genossin, wenn es dir nicht paßt bei uns, du kannst es gerne es gerne schlechter haben …​ “ (82) Zugleich spricht Josefa damit eine zweite Erklärung für Luises Opportunismus an. Letztere sieht im Blick in die schlechtere Vergangenheit lediglich eine Rechtfertigung für die unzureichend befriedigende Gegenwart. Als gäbe es nur diesen beiden Optionen zu bedenken, ohne jede Zukunft. Als Josefa Luise ihre schreckliche Vision von einem “perfekten System der Nivellierung” beschreibt, in dem die letzten Aufsässigen ausgestorben sind, antwortet Luise nachdenklich:

Aber ich muß das anders sehen, verstehst du. Ich habe den Faschismus erlebt. Eurer Grunderlebnis ist ein anderes, ich weiß. Ihr könnt die Vorteile des Sozialismus nicht an der Vergangenheit messen, die habt ihr nicht erlebt. Aber wenn du von einem perfekten System zur Nivellierung sprichst, muß ich dir sagen: das kenne ich unvergleichlich schlimmer. Für mich ist das, was wir hier haben, das Beste, was ich erlebt habe. (80)

Vielleicht hatte sich auch für Luise der Sozialismus als “die Hoffnung auf das Andere”2 dargestellt. Ist davon auch nichts geblieben, so ist der Topos ähnlich wie im Verhältnis Wülffs mit Huppel: Luise spricht für die Aufbaugeneration zur Jugend mit ihrer “revolutionären Ungeduld” (171). Für Josefa ist der “betriebene Sozialismus” zwar “deformierte Realität”, doch bindet sie als Sozialistin und Genossin noch immer ihre Hoffnungen an ihn. So muß sich im obigen Zitat - im Gegensatz zu Huppel und Wülff - die Ältere für ihren Opportunismus bei der Jüngeren rechtfertigen. Doch in der Struktur sind Marons und Loests Roman gleich: Josefa nimmt sich Luise zum Adressaten ihrer Gedanken, um sich ihres Handelns und somit ihrer Identität zu vergewissern.

5-05 Luise ist die einzige, die sich im Rahmen ihrer Möglichkeiten für Josefa einsetzt. Mit allen anderen in der Redaktion ist wirkliche Kommunikation nicht möglich. Am wenigsten mit Strutzer, ihrem Parteisekretär und stellvertretendem Abteilungsleiter. Beim Treffen mit dem “zuständigen Genossen” wird sie zwar erhört, doch weiß sie vorher, dass es keine wahre Kommunikation sein kann:

Der zuständige Genosse hatte seine Entscheidung getroffen, exakt und unumstößlich hatte er sein Nein durch Strutzer übermitteln lassen. …​ Selbst Josefa wußte nicht, was es jetzt noch zu besprechen gab zwischen ihr und dem zuständigen Genossen. (164)

Der “zuständige Genosse” muß erkennen, dass es Josefa schon lange nicht mehr nur ums Kraftwerk geht. Es geht ihr ebenso um Strutzer. Wäre es im Kraftwerk die Aufgabe des Heizers und seines Vertrauensmannes gewesen, sich für die Wahrheit stark zu machen, so mußte es Josefas Aufgabe sein, den Kampf um das Schreiben der Wahrheit aufzunehmen. Das sie auch aus anderen Gründen gar nicht anders handeln kann, zeigt ihr ein Blick auf Luise:

Auch Luises Leben wurde bestimmt von einem Bekenntnis. Trotzdem waren für sie der ideelle Entwurf ihrer Biographie und seine tätige Verwirklichung nicht mehr eins. Luise war Kommunistin, und ihr ideelles Bekenntnis galt der Befreiung aller Unterdrückten und Ausgebeuteten. Als Ergebnis ihrer Arbeit lag aber Woche für Woche eine Zeitung vor, die ihr nicht gefiel und denen nicht, für die sie gemacht wurde…​ (99)

5-06 Das Schreiben der Wahrheit in einem repressiven System verknüpft sich für Josefa immer mehr an die Wahrung “des Identischseins mit ihrem Eigentlichen” (99). So macht Josefa sich ihrem Ärger, nie sie selbst sein zu dürfen, gegenüber Luise Luft:

Alles, was ich bin, darf ich nicht sein. Vor jedes meiner Attribute setzen sie ein 'zu': du bist zu spontan, zu naiv, zu ehrlich, zu schnell im Urteil…​ Ich soll mir abgewöhnen, ich zu sein. Warum können sie mich nicht gebrauchen, wie ich bin? (78)

Vom gesellschaftlichen Nivellierungsdruck - um ein vieles in der Parteigruppe potenziert - geht eine immerwährende Gefahr für Josefas Selbstverständnis als Individuum aus, weckt aber auch in ihr den Widerstandsgeist und stärkt ihren Willen zur Wahrung ihrer Identität. Sie will nicht wie Luise denken, deren Handeln auf dem schmalen Pfad zwischen Pragmatismus und Opportunismus immer mehr zum letzteren tendiert. Hatte Luise vor dreißig Jahren eigene Erfahrungen beim Aufbau machen können, hatte Josefa nur “gelernt, wer ihre Vorfahren waren: von Spartakus bis Saint-Just, von Marx bis zu den Antifaschisten gehörten alle Kämpfer in ihre Ahnenreihe. Dort war die Wurzel ihrer Absichten.” (100) D. h. ihre Absichten sind radikal-sozialistisch und nicht real-sozialistisch. Josefa ist immer noch im Marxschen Sinne davon überzeugt, dass Widersprüche und Persönlichkeiten, die auf sie hinweisen, die Entwicklung der Gesellschaft vorantreiben.

Ich will nicht den Anspruch aufgeben, mit den anderen leben zu können als die, die ich bin. Ich will nicht den Dialog mit ihnen abbrechen und in die Zukunft emigrieren. (111f)

Peter Peters betont Josefas Absicht, die Wahrung ihrer Individualität nicht von vornherein gegen das Kollektiv zu behaupten.

Ihre Klage (gegenüber Luise, d. A.) unterliegt auch der Spannung von gesuchtem Selbstbewußtsein und Orientierung am Kollektiv. Sie akzeptiert die ihr zugeschriebenen Eigenschaften, wehrt sich aber dagegen, dass sie als Charakterschwäche ausgelegt werden. Ihre Argumentation öffnet den Horizont ihres Anliegens: die Suche nach der Realisierbarkeit von Individualität als gesellschaftlicher Produktivfaktor. Darauf fußt auch ihre Angst vor der “Gewalttätigkeit industrieller Arbeit” (81) 3

5-07 Dass das Schreiben der Wahrheit für Josefa eng verknüpft ist mit der Wahrung ihrer Identität, deutet sich schon gegenüber ihrem Freund Christian an, der ihr vorgeschlagen hatte, doch zwei Varianten zu schreiben: “Die erste, wie es war, und deine zweite, die gedruckt werden kann.”

Das sei verrückt, sage ich, Schizophrenie als Lebenshilfe - als wäre kultivierte Doppelzüngigkeit weniger abscheulich als ordinäre. Ein zynischer Verzicht auf Wahrheit. Intellektuelle Perversion. (24f)

Wenig später ist sie sich bewußt, dass sie dieser Schizophrenie nicht folgen kann, und entscheidet sich für den einzig richtigen Artikel, der Wahrheit. “…​ ich kann nicht zwei Leben führen, ein legales und ein illegales.” (111)

5-08 Doch dass eine Lesart zu kurz greift, die sich lediglich auf Josefas Kampf um Wahrheit als exemplarischen Kampf für ein selbstbestimmtes Leben der Protagonistin konzentriert, macht Peters4 deutlich:

Literaturwissenschaftliche Kategorisierungen solcher Art, die den Romanverlauf darauf ausgerichtet sehen, dass Josefa aufgrund der negativen Erlebnisse zu einem “Bewußtsein ihrer selbst” (Grunenberg) gelangt , setzen sich allzuschnell über das dialektisch vermittelte Verhältnis von Individuum und Umwelt hinweg. Der Einzelne wirkt ebenso verändernd auf seine Umwelt ein wie die Umwelt auf ihn. Läßt man äußeren Einfluß, individuellen Anspruch und Verantwortung als Parameter dieser Dialektik außer acht, so erklärt man implizit Sozialisation zu einem einseitigen Applikationsprozeß. Daher greift eine Interpretation zu kurz, die von der Reportage über B. ausgehend die destruktiven Mechanismen analysiert, ohne die soziale und psychische Situierung der Hauptfigur zu berücksichtigen.

In der Tat zeichnen nicht für alle Faktoren, die für die Konstituierung einer Identität Josefas bestimmend sind, Strutzer und Genossen verantwortlich. Josefas Eigenschaften und Ansichten z. B. über Vorbilder, Partnerschaft und Privatleben sollen deshalb im folgenden Berücksichtigung finden.

5-09 “Das Eigentliche, nach dem sie suchte, war die ihr gemäße Biographie, einmalig und für keinen anderen passend als für sie.” (99) Keine Biographie ohne Kenntnis und Bewußtsein der Vergangenheit. Die Ich-Erzählerin Josefa liefert in bester Tradition einer quasi-autobiographischen Ich-Erzählung zu Beginn eine Selbstvorstellung. Erzählt wird aus der Perspektive des Kindes Josefa, ironisch gebrochen durch die Erwachsene. Im Mittelpunkt steht Josefas polnisch-jüdischer Großvater Pawel, der im Gegensatz zur preußisch-vernünftigen Familie ihres Vaters “verrückt” war. “Verrücktheit” ist für das Kind Josefa Chiffre für Unangepaßtheit und Freiheit. Sie “beschließt an einem Tage gegen Ende ihrer Kindheit die Charaktereigenschaften vom Großvater Pawel geerbt zu haben.” (vgl. 8) Der Großvater wird beschrieben als spontan, verträumt und jähzornig. In ihrer Phantasie wird er außerdem noch musisch, heiter und ängstlich. Die Verwandtschaft mit ihrem Großvater auch in der Angst (vgl. 12) zu akzeptieren, gelingt ihr erst später in einer Situation des Ausgegrenztseins. Die “Machtsucht primitiver Gemüter läßt sie erzittern” (vgl. 12). Doch läßt sie diese auf bestimmte Personen bezogene Angst wie z. B. auf Pförtner oder kinderverjagende alte Frauen tätig eingreifen. Sie ist - wenn auch jähzornig - in der Lage, sich zu wehren. Anders ist es mit der unbestimmten Angst, die “ein großes finsteres Loch um sie reißt.”

Der Großvater fürchtet das Kornfeld, in das er getrieben wurde. Was habe ich zu befürchten? Das Bett, in dem ich sterben werde. Die Leben, die ich nicht lebe. Die Monotonie bis zum Verfall und danach. (12)

dass diese Angst nicht konstruiert ist ähnlich einer midlife crisis bei Simrock, offenbart sich dem Leser im zweiten Teil des Buches, wo “ihre unspezifischen Lebensängste eine handlungshemmende Wirkung zeigen. Letztere wird im Laufe des Romans immer mehr zu einer Lebenskonstanten, die ihr Handeln latent bestimmt.”5 In dem ein wenig metaphysisch anmutenden Prolog stellt sich Josefa als widersprüchlicher Charakter dar, der sowohl Kraft aus der Vergangenheit schöpft als auch in ihr die Quelle ihrer Ängste vermutet.

5-10 Zerrissen erscheint Josefa auch im Privatleben. Sie ist geschieden und will fortan allein leben. Sie will nicht mehr gefragt werden “wasdenkstdu, woherkommstdu, wohingehstdu, wannkommstduwieder, warumlachstdu. Ich wollte kein siamesischer Zwilling sein, der nur zweiköpfig denken kann, vierfüßig tanzen, zweistimmig entscheiden und einherzig fühlen.” (22) Wenn sie über Ehe spricht, dann nur über das “Vierbeinerdasein” (131), der Ehemann heißt in ihrer Sprache “Meinmann” (22). Das Vierbeinerdasein hat sie auf ein Minimum beschränkt, auf den Vorzug des “Meinmanns” verzichtet sie jedoch nicht völlig: Ihrem Freund Christian kann sie ihre verheulten Augen zumuten, bei ihm sucht sie Trost nach ihrer Fahrt nach B.. Christian ist ebenfalls geschieden. Geliebt hat er jedoch nur Josefa. Er war da “als Ersatz” (23) für eine unerfüllte Liebe Josefas zu einem anderen.

5-11 Für Josefa gibt es nur drei Menschen, “von denen sie sicher annahm, dass sie mit ihrem Eigentlichen identisch waren.” (99) Neben den Großeltern gehört dazu der Vater Christians, Werner Grellmann.

Aber ich nahm ihn (Christian, d. A.) an als etwas Sicheres, Schönes, das es für mich auf der Welt gab. Vergleichbar mit einer Mutter oder einem großen Bruder. Zu Beginn unserer Freundschaft ging dieses Gefühl der Geborgenheit nur mittelbar von Christian aus. Mich faszinierte die intellektuelle, kultivierte Atmosphäre des Grellmannschen Haushalts. (38)

Werner Grellmann verläßt bald die Stadt und Josefa konzentriert ihre Erwartungen auf Christian. Dieser ist ihr Trostspender durch seine bloße Anwesenheit. Er soll ihr das “Gefühl der Geborgenheit” vermitteln und wird so auf eine Funktion reduziert. Diese Art der Geborgenheit wirkt bis in ihr Sexualleben hinein.

Es hätte Zufall sein können, dass unter den Männern, die sie näher kannte, kein Arbeiter war. Aber es war kein Zufall. Wenn sie in den Betrieben, durch die sie seit sechs Jahren fuhr, die breitschultrigen, muskulösen Männer gesehen hatte, die körperliche Sicherheit, mit der sie riesige Werkteile durch die Halle dirigierten, die von dicken Adern durchzogenen Unterarme, hatte sie sich manchmal vorgestellt, wie es wohl wäre, unter so einem Körper zu liegen, was er wohl sagen würde…​ Sie war nie auf die Idee gekommen, es einfach zu machen. Sie hatte Angst, eine gewohnte Verständigungsebene zu verlassen, sich einem Wertesystem auszusetzen, das ihr fremd war, patriarchalische oder kleinbürgerliche Moralsprüche hören zu müssen, ohne zu wagen, darüber zu streiten, wie sie mit Christian darüber gestritten hätte. (141)

5-12 Josefas und Christians Liebesleben fängt für Josefa ambivalent an. Christian will wie in fünfzehn Jahren Freundschaft gewohnt, für zwei das Bett herrichten, doch Josefa verspürt Sehnsucht nach körperlicher Wärme. Trotz dieser Sehnsucht und noch bevor Christian sie berührt, fühlt sie sich schon mißbraucht.

Das ist nicht mehr Christian, das ist ein Mann, fremd wie andere. Gleich werden seine Hände prüfende über Haut und Fleisch fahren, ob sie den allgemeinen Ansprüchen auch standhalten, wird er auf Höhepunkte warten und wird, bleiben sie aus, das Prädikat frigide oder anorgastisch registrieren. (26)

Seit dieser gemeinsam verbrachten Nacht muß sich Josefa jedesmal neu fragen, wen sie besucht: “den alten zuverlässigen Freund oder diesen neuen Christian mit den warmen, kräftigen Händen.” (37) Zur zweiten Liebesnacht der beiden kommt es bei der Übernachtung bei einem Freund Christians.

Jetzt mußten sie die Nacht kartenspielend auf dem Bettrand verbringen, oder sie würde Christian bis zum Morgen zwischen den Schenkeln haben, bis er die Angst, die der Tag in ihr hinterlassen hatte, aus ihr herausgepumpt hätte. (113)

Wieder ist für Josefa nach bedrohlichen, angsteinflößenden Tagen der Beischlaf mit Christian wichtig. War es ihr so beim ersten Mal schon gelungen, die Stadt B. und Luise zu vergessen, vergißt sie in dieser Nacht in einer “Sexualimagination” (Peters) 'sich selbst': Ein Tintenfisch treibt mit ihr über den Ozean und erhebt sich mit ihr anschließend in den Himmel. Ihr wachsen auch Flügel…​ “Ich bin ein Tintenfisch.” (114) Im Rückblick auf diese Nacht, “in der sie Kreatur gewesen ist in einer Welt ohne Illustrierte Woche” (155), erscheint ihr alles, was mit ihrem Beruf zusammenhängt, als “absurd” (155) und extra dafür ausgedacht, dass sich die Menschen mit Dingen “außerhalb ihres natürlichen Lebens” beschäftigten.

Der letzte Teilsatz des auktorialen Erzählers könnte Josefas Zweifel andeuten. Zumindestens macht er es dem Leser schwerer, in den Imaginationen einen Kraftquell für ihr Leben am Tage zu vermuten. Eher ist es eine Flucht vorm Leben.

5-13 Ihre Beziehung bleibt eine lockere, ohne Verpflichtungen.

Sie verhielten sich zu einander zwanglos und vertraut…​ Nur abends, wenn sie sich in Josefas breites Bett legten, verwandelten sie sich in sprachlose Wesen, in fliegende Tintenfische…​ vergessen, wer sie waren, schweigen, um sich nicht zu erinnern, dass unter ihnen nicht der Ozean war. Ihr gemeinsames Leben war streng unterteilt in Tag und Nacht, in Freundschaft und Ekstase. (154f)

Vom Freund Christian kann sie keine Hilfe beim Schreiben der Wahrheit und bei ihren naiven Vorstellungen über sozialistische Demokratie erwarten. Da er weiß, dass sie nicht kündigen will, gibt es für ihn auf der Parteiversammlung für Josefa nur eine Lösung:

»Hör dir wenigstens die Vorhaltungen an, ohne zu widersprechen, und sag zum Schluß, du siehst es ein«, sagte er und zitierte einen seiner Lieblingssätze: »Es ist nicht wichtig, recht zu haben, sondern recht zu behalten.«

Bis zum Ende des Buches hofft Josefa auf die stützende Funktion Christians am Tage wie in der Nacht. Sie würde keine Psychotherapie wie ihr Kollege Jauer machen müssen, um “in sich selbst zu ruhen”, “glücklich und blöd” (223).

5-14 Erst in einem Traum erlangt sie Aufschluß über den Charakter ihrer Beziehung zu Christian. Darin erscheinen “zwei Menschen, die ihr bekannt vorkamen”: eine Frau in ihrem Glauben an den “Ozean” und ein Mann, “der nicht so weit gehen kann” (210f). Die Frau will zum “Ozean”, doch der Mann hat nur ein Bein. Sie bleibt bei ihm, hat aber wegen seines Defekts keine Lust zum Sex. Erst als sie erblindet, “stößt sich der Mann tief in die Frau” (210). Der Akt endet mit dem Tod der Frau. Am Tage befällt Josefa Panik vor der Vorstellung, Christian könnte sie verlassen. Ebenso war noch zuvor die sexuelle Erfüllung bei Christian ihr das Wichtigste und Schönste in der Beziehung. Wie läßt sich dieser Traum einordnen? Ausgelöst wurde er durch Josefas Vorstellung, dass Christian

“sie bekämpfte, nein, nicht sie, …​ nur ihren Körper, der er ihr heimlich gestohlen hatte und ihn bekämpfte, bis er ihn besiegt hatte, unterworfen; bis er nur noch ihm gehörte und Christian sich wieder an Josefa erinnerte…​” (213)

Christian fühlt sich durchschaut und fragt: “Woher kennst du diese Wut?”. Diese Wut, welche Formen sie “in den animalischen Abgründen” (S. 50) auch annehmen mag, kennt oder 'ahnt' man nur, wenn man sie ebenso in sich spürt. Nachdem Josefa Christian diesen Traum geschildert hat, ist dieser nicht mehr in der Lage, sich Josefa unbefangen sexuell hinzugeben. Der letzte Beischlaf ist “anders als in den anderen Nächten” (vgl. 225), voller “Wehmut”. Indem Josefa über das Sexuelle der Beziehung spricht, macht sie selbige unmöglich. Christian zieht sich immer mehr aus der Beziehung zurück, ist nicht mehr bereit, ihr zu helfen. Auf ihren Tablettenkonsum reagiert er mit der “Hilfe” eines Psychiaters. Sie müssen sich eingestehen, dass sie beide nicht gefunden haben, was sie im anderen erhofft hatten: Stärke. Christian sagt zu Josefa: “…​ du warst anders, du warst souveräner, stärker. Das war es, dafür habe ich dich gemocht.” (239) Er hatte sie für all die Dinge gemocht, zu denen er durch sein Taktieren nie in der Lage gewesen wäre. Doch scheinbar war er sich auch nie Josefas Zerrissenheit und Zweifel dabei bewußt. Ihm ist jede Illusion von Josefas Stärke genommen und er trennt sich von ihr. Umgekehrt kann man den Traum Josefas dahingehend deuten, dass sie bei Christian einen Defekt erahnt, den sie im Wachzustand nicht zu erkennen vermag: fehlende Souveränität und Stärke. Josefa macht ihm keine Vorwürfe.

Nein, es war kein Zorn in Josefa, nicht auf Christian, nicht auf sich selbst. Eher Verwunderung, weil endlich geschehen war, was hätte geschehen müssen. Wie nach physikalischen Gesetzen, dachte sie…​ Wir reagieren genau, mit fataler Berechenbarkeit. (241)

5-15 Beide nährten sich und die Beziehung aus einer Illusion. Die Flucht in die Nachtphantasien konnte auf die Dauer nicht darüber hinwegtäuschen, dass der eine vom anderen nicht “betroffen war” (vgl. 187), nicht wirklich am Leben des anderen teilhaben wollte. Simrock will seine Lebensgefährtin Antonia mit “pädagogischen Eifer erziehen”. Dies ist auf dem zweiten Blick aber auch Ausdruck seiner Nähe zu ihr, des “Betroffenseins” am anderen. Josefa und Christian akzeptieren sich, wie Freunde es tun, mit gegenseitiger Nichteinmischungspolitik. Setzt man Josefas Scheitern im Privatleben mit ihrer Angst vor dem “Vierbeinerdasein” in Verbindung, so kann man ihr fatalistisches Hinnehmen der Trennung als Versuch der Wahrung der Identität im privaten Bereich betrachten. Josefa selbst vollzieht nie eine Trennung in öffentliches und privates Leben. Sie ist von ihrem Totalitätsanspruch förmlich besessen, so dass sie von den Auseinandersetzungen des Berufs im Privatleben, sieht man von den kurzen Glücksmomenten der Nächte ab, keine Kompensation und Relativierung erfahren kann. Nach der ersten Parteiversammlung fängt Josefa an, sich darüber Gedanken zu machen.

Damals hatte Josefa zum ersten Mal begriffen, was die Leute meinten, wenn sie von ihrem Privatleben sprachen. Sie hatte bislang nie verstanden, wo die geheimnisvolle Grenze zwischen einem privaten und einem anderen Leben verlaufen sollte…​ Mein Mann, deine Frau, meine Sache, deine Angelegenheit, eine besondere Art von Leben, nur mittels besitzanzeigender Fürwörter beschreibbar, Privateigentum, Betreten verboten, Vorsicht, bissiger Hund. Josefa hatte weder ihre Ehe noch ihr Kind als etwas ansehen können, das zu trennen gewesen wäre von ihrem Leben mit Luise oder Hodriwitzka oder Strutzer. (208)

Doch es wird ihr nicht gelingen. Sie kann sich solch ein Leben nur als ein schizophrenes vorstellen.

Sie würde sich einreihen in die Stummen, scheinbar Hirnlosen, die mit leeren Gesichtern das Ende der Referate und Diskussionen abwarteten. …​ nur abends würde sie sich an Christian vergewissern können, dass sie trotzdem noch immer die alte war. Sie müßte sich die Sätze, die sie früher gesagt hatte, wieder sprechen hören, und sie müßte wissen, dass sie einer sie hörte außer ihr. Abend für Abend würde sie den Authentizitätsbeweis antreten müssen, um nicht zu vergessen, wer sie war. (238)

5-16 Genauso ist ihr auch ein Planen oder gar Taktieren in der Redaktion fremd. “Sie konnte keine Antworten, Reaktionen, Telefongespräche kalkulieren wie die Zutaten einer Suppe. Sie wußte nicht, was Strutzer als nächstes tun würde und was sie darum als übernächstes tun mußte.” (192) Simrock als Vernunftsmensch sieht im Rückblick ebenso wie Josefa, dass die Dinge um ihn herum eine Eigendynamik entwickelt hatten, doch wußte er die Wirkungen seines Handeln besser einzuschätzen. Das ging so weit, dass er in den Ferien physische Arbeit an sich ausprobiert als mögliche Konsequenz einer befürchteten Kündigung. Zu Hilfe kam ihm der Umstand, dass er sich relativ unpersönlichen Behörden und deren Marionetten gegenübersieht. Josefa ist aufgrund ihrer Gefühle - besonders in ihrem Haß zu Strutzer - weniger in der Lage, Abstand von allen Ereignissen zu finden und sie auf das wirkliche Maß zu reduzieren. Simrock durchschaut das infantile Ritual der Selbstkritik und stellt es als solches bloß. Josefas Fernbleiben von Strutzers zweiter Parteiversammlung sprengt nicht den Rahmen der infantilen, herabwürdigenden Degradierung eines erwachsenen Menschen. Es ist u.a. auch als Trotzverhalten des unverstandenen Parteikindes denunzierbar.

5-17 Josefa gibt sich am Tage von Zeit zu Zeit ihren Flugphantasien hin. Auch das Ikarus-Motiv findet dabei Verwendung. Zu diesen Phantasien und Josefas Träumen im Schlaf bemerkt Antonia Grunenberg:

Die Flüge stellen in der Dramaturgie des Romans den Konterpart zu den Träumen dar. Die Träume sind Alpträume. Sie bringen schmerzliche Selbsterkenntnis. Die Flüge sind Lust und bringen Erholung für die geplagte Psyche. Sie sind Kraftspender, weil sie bestätigen, welche Phantasie, welche ungewöhnlichen Begabungen in der flugsüchtigen Frau liegen. 6

Die Flugphantasien sind Produkte der Schwierigkeiten in der Redaktion, und durchaus vergleichbar mit dem Alkoholkonsum ihres Redaktionskollegen Fred Müller und der Psychotherapie Jauers. Die Flucht ist aber nur von kurzer Dauer und die Landung wird entsprechend immer härter. Nach dem Gespräch mit dem “verantwortlichen Genossen” fühlt sich sie sich zu müde, um zu “fliegen”. Selbst zum Alex wird sie “laufen müssen” (173). Andererseits wird ein Phantasieszenario ihr zum Anlaß, zu handeln. Sie “erlebt”, wie ein schwarzer Vogel flügelschlagend lautlos zu Boden fällt, während für eine schwarze Limousine der Verkehr abgeriegelt wird und diese vorbeirauscht (176). Die Vision gibt ihr die Kraft, sofort einen Brief an den Minister wegen des Kraftwerks in B. aufzusetzen.

5-18 Zu Jurek Beckers Schlaflose Tage schrieb Michael Zeller 1978, dass “die schriftstellerische Weiterentwicklung zunächst einmal von dem persönlichen Mutbeweis des Autors in den Schatten gestellt wird.” Für Zeller lasen sich “Romanfiktion und Wirklichkeit wie ein Palimpsest”7 Viel größer ist die Versuchung bei Maron: sowohl die Autorin als auch ihre Protagonistin waren Journalisten in einer Redaktion am Alexanderplatz. Die Ich-Erzählerin im ersten Drittel des Romans hinterläßt nur einen geringen Eindruck von Mittelbarkeit des Erzählten und kommt der Identifikation des Lesers mit der Heldin Josefa entgegen. Das ändert sich, wenn kurz vor dem zweiten Teil die Person des Erzählers zum auktorialen bzw. personalen Erzähler wechselt. Maron sagte später zu Flugasche, dass “es einfach ein Losschreiben war, ohne irgendwelche ästhetischen Überlegungen.”8 Vielleicht kann man diesen Erzählerwechsel als Versuch der Autorin deuten, Abstand zur Protagonistin zu gewinnen. Erzähltechnisch bieten sich ihr nun mehr Möglichkeiten, Josefas Taten und Gedanken zu kommentieren und relativieren. Dies geschieht auch in einigen Fällen mit einem Wechsel des point of view auf Christian:

Christian litt unter Josefas Depression, für die er keine ausreichende Erklärung fand…​ Ihr Brief an den Höchsten Rat war einfach lächerlich. Josefa Naivität, infantiler Unberechenbarkeit oft bedrohlich nah, hatte ihn früher schon amüsiert oder geärgert, je nach Grad der Ignoranz, den er darin wahrnahm. (190)

Doch sonst verbleibt die Erzählperspektive bei Josefa, was den Wechsel des Erzählers nach dem ersten Drittel des Romans weniger abrupt erscheinen läßt.

5-19 Der zweite Teil des Romans startet programmatisch. “Es häuften sich die Träume, die in Josefa aufstiegen, sobald sie einen Fluchtweg fand aus den vielen Reden, die um sie herum geführt wurden.” (145) Flugphantasien und Träume folgen in immer kürzeren Abständen. Trotz der Möglichkeit der Traumdeutung vermag ein Rezipient Träume anderer nur schwer in Kausalitätszusammenhänge stellen. Sie werden als autonom empfunden und ihre Interpretation als schwierig, da mehrdeutig. Beinahe ganz ausgeschlossen ist die Möglichkeit der Identifikation mit dem Traum eines anderen Menschen. Erzähltechnisch könnte man die geringe Identitätswirkung der Träume mit Stanzels Überlegungen zu “Unbestimmtheitsstellen bei Reflektorfiguren” vergleichen.

Bei einer Reflektorfigur sind Erzählvorgang und Motivation zur Selektierung des Dargestellten nicht thematisiert, damit wird dem Leser auch jede explizite Information über die Kriterien des Dargestellten vorenthalten. Die Selektion des Dargestellten ergibt sich hier primär aus der Perspektive der Darstellung. Durch die meist scharf fokusierte Perspektive einer Reflektorfigur wird ein Sektor aus der fiktionalen Wirklichkeit herausgelöst und in der Darstellung so ausgeleuchtet, dass alle für die Reflektorfigur wichtigen Einzelheiten erkennbar werden. Außerhalb dieses Sektors aber herrscht Dunkelheit, Ungewißheit, erstreckt sich eine große Unbestimmtheitsstelle, die nur da und dort durch Rückschlüsse des Lesers aus dem ausgeleuchteten Sektor punktuell ausgeleuchtet werden kann. Es fehlt bei diesem Darstellungsmodus die Instanz, die den Leser darüber aufklären könne, ob außerhalb des durch die Wahrnehmung der Reflektorfigur ausgeleuchteten Sektors der fiktionalen Wirklichkeit etwas existiert, was von Belang für das dargestellte Geschehen sein könnte. Der Leser ist in dieser Frage auf Gedeih und Verderb der Reflektorfigur und ihrem existentiell begrenzten Wissens- und Erfahrungshorizont ausgeliefert.9

5-20 Erst nach zwei vergeblichen Hilfeanrufen entscheidet sich Josefa, der intriganten Parteiversammlung fernzubleiben. Das Schlußbild zeigt eine alleingelassene, unter Tabletteneinwirkung hilflos wirkende Josefa, in ihrem Bett zurückgezogen. Für Antonia Grunenberg findet Marons Hauptfigur “ihre Heilung in der Besinnung auf einen selbstmitleidigen Narzißmus”10 . Ob es sich als “Heilung” im wahrsten Sinne des Wortes erweisen kann, läßt der Schluß offen. Josefa hat in geradezu solipsistischer Unnachgiebigkeit ihre moralische Integrität bewahrt. Ob sie damit zu einer Identität gefunden hat oder die ihre gewahrt hat, ist fraglich. Marons Buch ist das erste der hier besprochenen, das eine Identität um ihrer selbst willen als fragwürdig problematisiert. Josefa kann sie wahren gegenüber anderen, oder finden trotz der anderen, im Wechselspiel mit der Gesellschaft. In der Isolation ist das Identischsein mit sich selbst als Fragestellung obsolet. Peters kommt zu dem Schluß, dass Josefa durch ihr “Rückzugsgebaren Subjektwerdung unmöglich macht.”11

1 Monika Maron: Flugasche, Frankfurt/M. 1991 (Fischer Taschenbuch), alle Zitate folgen dieser Ausgabe

2 vgl. Zitat Heiner Müllers auf S. 21

3 Peters, Peter: Ich Wer ist das. Aspekte der Subjektdiskussion in Prosa und Drama der DDR (1976-1989), Frankfurt/M. 1993, S. 145

4 Peters, Peter: Ich Wer ist das. Aspekte der Subjektdiskussion in Prosa und Drama der DDR (1976-1989), Frankfurt/M. 1993, S. 145

5 Peters, Peter: Ich Wer ist das. Aspekte der Subjektdiskussion in Prosa und Drama der DDR (1976-1989), Frankfurt/M. 1993, S. 141

6 Grunenberg, Antonia: Aufbruch der inneren Mauer. Politik und Kultur in der DDR 1971-1990, Bremen 1990, S. 215

7 Zeller, Michael: Geschichte eines doppelten Scheiterns. In: literatur konkret, H.2, Frühjahr 1978, S. 40

8 Hamether, Michael: Von Tätern, die zu Opfern wurden. Gespräch mit Monika Maron. In: Börsenblatt für den deutschen Buchhandel 51/92, 26.6.92, S. 43

9 Stanzel, Franz K.: Theorie des Erzählens, Göttingen 1995, S. 204

10 Grunenberg, Antonia: Aufbruch der inneren Mauer. Politik und Kultur in der DDR 1971-1990, Bremen 1990, S. 215

11 Peters, Peter: Ich Wer ist das. Aspekte der Subjektdiskussion in Prosa und Drama der DDR (1976-1989), Frankfurt/M. 1993, S. 151

Christoph Hein: Der fremde Freund

Kapitel 6 - Abschnitt 01 Christoph Heins Novelle Der fremde Freund veranlaßte unvergleichlich viel Literaturwissenschaftler zu einer Meinungsäußerung. Dieses hohe Interesse am schmalen Bändchen ließe sich vielleicht damit erklären, daß es gleichermaßen in Ost und West erschien und somit auch entsprechend mehr Rezensenten finden konnte als z. B. Maron oder Becker. Doch kann diese Erklärung nicht befriedigen. Ein anderer Ich-Erzähler, Erich Loests Wülff, konnte, wenn in der DDR auch limitiert, ebenfalls in realistischer Erzählweise in ganz Deutschland die Zufriedenheit mit seiner Biographie äußern, ohne ein solches Maß an Interesse auf sich zu konzentrieren.

Ein Blick auf das Geschehen des Buches ist ebenfalls wenig angetan, eine Erklärung dafür zu bieten. Die vierzigjährige Ärztin Claudia nimmt den Tod ihres Freundes und Liebhabers zum Anlaß, das letzte, mit ihm von Zeit zu Zeit verbrachte Jahr Revue passieren zu lassen. Ihr mangelt es zumindestens äußerlich an nichts, sie ist zufrieden. Ihr Leben “verläuft mit der Stupidität eines Perpendikelschlages” (197) 1 und erfährt nur durch die Umstellung auf die Sommerzeit ein wenig Abwechslung. Die Tatsache der Sprachäußerung durch die Ich-Erzählerin allein signalisieren schon die Bewältigung der Geschehnisse. Die schwierige Wahl des richtigen Kleidungsstückes zur Beerdigung des Freundes tun ihr übriges. Sie hat inzwischen auch einen neuen Freund und ihr geht es gut.

6-02 Da das Erzählte nur bedingt Aufschluß über die große Diskussionsbereitschaft unter den Rezensenten gibt, gerät die Art und Weise des Erzählten immer mehr in den Vordergrund. Sollte das große Interesse in der Struktur der Novelle liegen, ist selbige auch der Schlüssel zur Erörterung der Frage nach einer Identität der Protagonistin. Eine 'Umkehrprobe' ist fast unmöglich, doch wird hier zur Verdeutlichung versucht. Dem Leser wird die unerhörte Begebenheit vom Ich-Erzähler zu Beginn der Novelle als bewältigt präsentiert, gefolgt vom Korpus: der leitmotivischen Langeweile. Diese kann gar nicht anders als humor- und spannungslos vermittelt werden. Übrig für eine Beschäftigung des Lesers bleibt nur die Protagonistin selbst, ihre geistige und seelische Verfassung. Zustandsbeschreibungen der Gesellschaft kann der Leser in anderen Werken leichter haben. Würde der Leser Claudias Worten am Ende der Novelle folgen, stellte dies jede Überlegung, warum Texte entstehen, in Frage.

6-03 DDR-Literaturwissenschaftler Frank Hörnigk schrieb 1987 zu Heins Novelle:

…​in dem konsequent durchgehaltenen poetischen Bild eines in seinen Alltagsbeziehungen scheinbar perfekt funktionierenden Lebenskonzepts ist - gleichsam als Untertext - eine Dimension sozialer Erfahrungen und Widersprüche mit eingeschrieben, die die Provokation des besonderen Falles, sein kritische Beurteilbarkeit, möglicherweise seine moralische Ablehnung weit überschreitet. Heins Prosa …​ läßt sich nicht lediglich auf eine Verständigung über das persönliche Betroffensein und Versagen einer Figur in den sie umgebenden Verhältnissen reduzieren, sondern hinterfragt durch sie diese Verhältnisse selbst. 2

In diesem umfassenden Einleitungsabsatz zur Novellenrezension ist anstelle einer Protagonistin und ihrer Identität zu Recht vom Bild eines Lebenskonzepts die Rede. Das legt nah, daß es bei der Frage nach Identität weniger um die eines authentischen, lebendigen und vom Autor emanzipierten Protagonisten gehen kann als vielmehr um das Funktionieren oder Versagen eines “Konzepts” mit der Ärztin als Protagonistin. Es wird verstärkt die Vorgeschichte des “Konzepts”, sprich die Erfahrungen der Protagonistin vor der Formulierung eines solchen zu beachten sein, ohne jedoch ihre Versuche der Rechtfertigung und Bestätigung in der Gegenwart zu vernachlässigen.

6-04 Die “sozialen Erfahrungen und Widersprüche” (Hörnigk) verweisen auf Heins Bestreben, im Beschreiben des Gegenwärtigen Kritik an der DDR-Gesellschaft im besonderen und Zivilisationskritik im allgemeinen zu evozieren. Die “Provokation des besonderen Falles, der seine moralische Ablehnung weit überschreitet”, verdeutlicht die Art der möglichen Rezeption und somit ein sich von anderer Literatur unterscheidbares Funktionsprinzip. Antonia Grunenberg nähert sich dem Distinktionsmerkmal über den “Anti-Helden” Hein´scher Prägung:

…​(es) wird deutlich, daß hier das absolute Gegenbild zum 'positiven Helden' dargestellt wird. Dagegen könnte eingewandt werden, das freilich sei nichts Neues in der Literatur der DDR. Seit fast zwei Jahrzehnten tummeln sich dort auch die 'Anti-Helden'. Aber man wird nirgendwo auf diese eigenartige Verbindung zwischen dem ausgeprägten Anti-Typ und der (fast) hermetischen Art seiner Darstellung treffen. Bei Hein gibt es keinen individuellen Ausweg, nur das individuelle Leiden an der Entfremdung. Wenn wir dagegen einen kurzen Blick auf andere 'Anti-Helden' der Literatur der DDR werfen, ob es sich nun um Bücher von Gerti Tetzner, Erich Loest oder Jurek Becker handelt, werden wir einen solchen Typus nicht finden. Alle hier genannten Autoren präsentieren Helden, die aus der Ehe aussteigen, aus der verlogenen Moral, von der Karriereleiter abstürzen, aber sie überwinden die ihnen angetanenen Verletzungen oder Zumutungen.3

Auch Marons Josefa ließe sich neben Becker und Loest stellen, denn ob Marons Hauptfigur die Zumutungen überwindet oder nicht, ist in diesem Zusammenhang unwichtig. Grunenbergs Beobachtung illustriert Hörnigks oben zitierten letzten Satz. Zugleich verweist sie auf eine Aporie, die sich allen Rezensenten der Prosa Christoph Heins stellt, ganz gleich, ob sie das zivilisationskritische Moment, die Betrachtung der Protagonistin Claudia oder das Funktionsprinzip bei der Rezeption in den Mittelpunkt ihrer Überlegungen stellen: das eine ist vom anderen nicht genau zu trennen, denn es sind Komponenten, die sich gegenseitig bedingen. Würde auch nur eine fehlen, gäbe es nicht die Novelle mit diesem hohen Maß an Interesse. Neben den drei Komponenten werden weitere Stichworte zu befragen sein, die mit den erstgenannten eng verknüpft sind.

6-05 Bei der Frage nach einer Identität Claudias müssen Berücksichtigung finden:

  1. die Bedeutung der Vergangenheit für die Gegenwart,

  2. das Leitmotiv der Langeweile und Gleichgültigkeit,

  3. die vom männlichen Autor geschaffene Weiblichkeit mit psychologischen Elementen und

  4. die Funktion des Ich-Erzählers.

Das Funktionsprinzip erfährt nähere Erläuterung u. a. mit Stichworten wie:

  1. der Rezipient als Kommunikationspartner,

  2. der Text als Warnbild,

  3. das Leitmotiv der Langeweile,

  4. der vorangestellte Traum und

  5. die Funktion des Ich-Erzählers und dessen Widersprüchlichkeit.

Die Zivilisationskritik basiert:

  1. auf der Dialektik der Aufklärung,

  2. der Aufklärung des Gegenwärtigen,

  3. dem Text als Warnbild und

  4. der Bedeutung der Vergangenheit für die Gegenwart.

Es zeigt sich durch die Mehrfachnennung, daß auch hier keine genaue Trennung möglich ist. Diese Arbeit soll die Identität der Protagonstin zum Mittelpunkt haben, wird aber um eine kurze Betrachtung der anderen beiden Komponenten nicht umhin kommen.

6-06 Der Autor hat sich vielerorts zum Buch geäußert, was zur Klärung beitrug, aber auch neue Fragen aufwarf. Über die breite Aufnahme der Novelle auch außerhalb der DDR äußerte er sich:

Beim Überlegen, warum dieses Buch einen solchen Erfolg hatte, kam ich zu dem Schluß, daß es wohl daran gelegen haben muß, daß ich etwas über die Kosten der Zivilisation geschrieben habe. Und die Zivilisation ist ja zumindest in den europäischen Staaten annähernd gleich entwickelt. Vielleicht liegt darin der Grund, warum das Buch über die DDR hinaus wirken konnte. Das ist aber ein nachträglich angestellte Vermutung und war kein Anlaß zum Schreiben. Aus Theorie entsteht keine Literatur.4

Die “Kosten der Zivilisation” sind inzwischen bei der Betrachtung des fremden Freundes zu einem unverzichtbaren Schlüsselwort geworden. Daß diese Kosten kein Schreibanlaß darstellten, kann man sofort glauben. Dem entgegen stehen Sätze von Figuren im Buch, die sich wie Spruchbänder des Autors ausnehmen müssen:

…​die gesamte Zivilisation ist eine Verdrängung. Das Zusammenleben von Menschen war nur zu erreichen, indem bestimmte Gefühle und Triebe unterdrückt wurden. Erst eine Menschheit, die in ihrer Gesamtheit den Psychiater benötigt oder vielmehr: benötigen würde, war fähig, in der Gemeinschaft zu leben. Diese Unterdrückung brachte das, was wir den zivilisierten Menschen nennen. (116)

Heins Buch zeigt, wie stark Theorie einen Text zumindestens beeinflussen kann. Hörnigks Beschreibung vom “konsequent durchgehaltenen poetischen Bild” (S. 57) deutet dies für die Form des Textes an.

6-07 Claudia ist der Überzeugung, dass sich wirkliche Probleme nicht lösen lassen.

Man schleppt sie ein Leben mit sich herum, …​ und irgendwie stirbt man auch an ihnen. Die Generation meiner Großeltern hatte dafür Sprüche parat: Wenn man einem Übel ins Gesicht sieht, hört es auf, ein Übel zu sein. Ich habe andere Erfahrungen. Was man fürchtet, bringt einen um, wozu sich also damit beschäftigen. (115)

Entgegen ihren Erfahrungen nutzt sie einen Kurzurlaub, um in die Stadt ihrer Kindheit, nach G. 5 zu fahren. Im Mittelpunkt ihrer Reise in die Vergangenheit steht die Erinnerung an den Verlust von zwei geliebten Menschen. Der schmerzlichste Verlust vielleicht ihres ganzen Lebens ist der der Freundschaft zu Katharina.

Und jetzt saß ich in einem Zimmer des einzigen Hotels in G. und trank Bier. …​ Eine Libation für ein Mädchen, daß ich rückhaltlos geliebt hatte, wie ich nie wieder einen Menschen sollte lieben können. (153)

Katharina war für sie die einzige Person ihres Vertrauens, mit der sich über alles reden ließ. Mit den Erwachsenen konnte sie nicht über den russischen Panzer in G. sprechen. Der Vater zu Hause schrie herum. “Vater sagte, ich solle in der Schule keine Fragen stellen und nicht darüber diskutieren. …​ Im Unterricht wurde aber ohnehin nicht darüber gesprochen.” (145) Nur mit Katharina konnte sie sich über dieses Ereignis austauschen. Die Eltern vertrauten ihr nicht; es war ein 'Tabu' der Erwachsenen, Eltern inklusive. Dieses Tabu den Erwachsenen zu entreißen bedeutete die Heraufbeschwörung von “siechen, geschlechtskranken Leuten” (146). Denn ihre Mutter hatte ihr “die schönste Hoffnung, den Wunsch, schnell erwachsen zu werden”, gründlich verdorben. Als sich ein Lehrer an einer Schülerin “vergriffen” haben soll, ist dies der Anlaß für Claudias Mutter, ihre Tochter “rabiat” aufzuklären. Ihre Neugier über den Panzer glaubte sie mit dem Preis erneuter Alpträume von geschlechtskranken Leuten bezahlen zu müssen. Claudia zog es vor, die Neugier zu unterdrücken und das Ereignis zu verdrängen. Ein erster, direkter Zusammenhang von Sexualität und Politik wird hergestellt. Im Falle des Panzers ist das Schweigen Symptom einer totalitären Gesellschaft.

…​elders would rather keep quiet than endanger themselves or their children by talking about events such as the 1953 in the GDR which, officially, should never have happened and therefore never did. The result is again fatal: Claudia loses all interest in a spirit of inquiry. 6

6-08 Katharina ist gläubig und in der Jungen Gemeinde aktiv. Die beiden Mädchen wollen die Entscheidung, welche die wahre Weltanschauung ist, bis zum 14. Lebensjahr verschieben, “um dann, an Gott glaubend oder ihn leugnend, durch eine weitere Gemeinsamkeit verbunden zu sein.” (147) Doch schon vorher schafft der Bezug zum Glauben eine Identität schaffende Gleichheit. Äußerlich sind sich die beiden durch die gleiche Frisur verbunden. Doch Claudias Vater bedrängt sie unter dem Eindruck der “atheisti-schen Kampagne im ganzen Landkreis” (148), “alles zu unterlassen, was mit Kirche und Religion zu tun habe.” Doch Katharina ist ihr lieber als alles andere auf der Welt und sie weigert sich, sie “zu verraten”. Erst als sich Katharina immer mehr einem Kantorssohn zuwendet, hält Claudia, nun eifersüchtig und tief gekränkt, den Erwartungsdruck von Familie und Schule nicht mehr aus. Im Gegenteil, sie wendet sich öffentlich gegen Katharina mit der Ideologie der Mehrheit, um sie in privater Angelegenheit zu kränken. Wieder vermischen sich Privates und Öffentliches in ihrem Handeln. Wenn sie zu Hause “fast mit Stolz erzählt, daß Katharina die Republik verraten habe”, kann sie verdrängen und zugleich den Liebesentzug der Familie wettmachen. Antonia Grunenberg meint zum Verlust der Freundschaft zu Katharina, daß deutlich wird, “daß die politisierte Form des Konflikts nur die Oberfläche beschreibt. Anlaß der Verletzung war der Streit mit der Schulfreundin, ein Streit aus verletzter Liebe, der - in den Schulen der fünfziger Jahren durchaus üblich - die Form einer pseudopolitischen Auseinandersetzung zwischen Kindern annahm.”7 Peter Peters beschreibt die identitätsstiftende Wirkung Katharinas für Claudia als die eines Spiegels, “in dem ihr Ich sein gewünschte Entsprechung fand. Claudias Objektliebe fand in Katharina die narzißtische Rückkopplung, die ausblieb, als ein Dritter dazwischen trat.”8

6-09 Claudia verliert noch ein weiteres Idol: ihren “Vaterersatz”9 Onkel Gerhard. “Er war für mich wie ein Großvater, und ich glaube, auch er betrachtete mich als sein Ziehkind…​” (154). Der Onkel hatte in der NS-Zeit als Sozialdemokrat die Mitglieder der SPD und KPD aus G. an die Nazis verraten. Er wird als zweiundsiebzigjähriger zu fünf Jahren Zuchthaus verurteilt. Zum zweiten Mal muß sie erfahren, daß die Identifikation (Vaterersatz) mit einem geliebten Menschen sich im Gegensatz zur “öffentlichen Meinung”10 befindet.

6-10 Claudia hat nach der Verurteilung des Onkels das Bedürfnis, sich “zu säubern” (155). Auch nach dem ersten Kuß von einem Jungen eilt sie nach Hause, “um sich von Kopf bis Fuß gründlich zu säubern” (141). Erneut erfährt Sexualität und Politik durch diese Geste einen engen Zusammenhang. Für Julia Hell greifen diese Szenen, neben anderen von Sexualität in Claudias Gegenwart, auf historisch konstruierte Konnotationen oder Mythen zurück: “the myth of sexuality as both the core of identity and as extra-discursive 'nature'…​ (Claudia beschreibt ihren Freund Henry als Stadtmensch und vermittelt somit von sich den Eindruck eines 'Naturmenschen')”11

On the other hand, Claudia´s story also mobilizes the myth of 'woman as the reprensentation of sexuality'…​ Hein´s text works with and relies upon the reader´s culturally and historically fixed associations of woman, nature, and sexuality. 12

In der Tat mag dem Leser die Assoziation von Sexualität und Identität bei einem weiblichen Helden leichter fallen als bei einem 16jährigen jungen Mann. Die Frage, ob diese “Mythen” vom Autor bewußter Teil seines Kommunikationsmodells zum Knüpfen von Zusammenhängen sind, muß unbeantwortet bleiben.

6-11 Neben der Säuberung des Körpers verspürt sie das Bedürfnis, “sich öffentlich schuldig zu sprechen”. Auf dem ersten Blick möchte man meinen, daß dies das ist, wozu die DDR-Nachkriegsgesellschaft nicht willens ist: für die Vergangenheit Verantwortung zu übernehmen. Doch der Leser hat noch in Erinnerung, daß sie sich stellvertretend für “ihr atheistisches Elternhaus” (148) gegenüber Katharinas, durch den Staat drangsalierter Familie schuldig fühlt. Zum einen glaubt sie sich für eine Politik anderer verantwortlich, zum anderen glaubt sie durch die Tat eines - wenn auch geliebten - anderen, “das Recht verloren zu haben, sich über die Greuel (in der NS-Zeit, d.A.) zu empören oder mitleidig zu sein.” (155). Beide Reaktionen Claudias zeigen - neben dem übergroßen Stellenwert öffentlicher Angelegenheiten in ihrem Gefühlsleben - die junge Protagonistin als einen Menschen, der von sich nicht vollständig als Individuum ausgeht und authentisch Gefühle zeigt. Sicherlich entspringen die Selbstvorwürfe, “die Nichte eines Naziverbrechers” (155) zu sein, einer Anpassungsstrategie. Doch kann ihr das in diesem Fall nur mißlingen: alle wollen die Vergangenheit verdrängen. Claudias Vater verdrängt sie bei einem Umzug in eine andere Stadt.

6-12 Auffällig ist, daß Claudia ihre Erinnerungen relativierend kommentiert. Mit einer Ausnahme: politische Ereignisse erfahren keine Benennung und Einordnung in die Geschichte. Der Autor verläßt sich auf das Wissen des Lesers. Wenn dieser es nicht weiß, kann er sicher sein, daß anderenorts nachgefragt wird. So läßt Hein unkommentiert, daß der Onkel Sozialdemokrat war und so möglicherweise zur nachträglichen Diffamierung der SPD herhalten mußte. Parallelen zum Nationalsozialismus müssen entstehen, wenn aktive Christen auch im Sozialismus Ausgrenzung erfahren müssen. Der Panzer bleibt genauso unkommentiert wie das Herumbrüllen des Vaters zu Hause. Es kann sowohl für oder gegen den Aufstand von 1953 gewertet werden. Der von Peters oben erwähnte Begriff der “öffentlichen Meinung” bleibt ungenau. In erster Linie ist es Staatsdoktrin und Ideologie einer Partei, zu der Claudia sich bei ihren gescheiterten Identifikationsversuchen im Widerspruch befand. Dieses Definitionsproblem ist ähnlich der Annahme, Loests Anti-Held Wülff ist einem gesellschaftlichen Druck zu Weiterbildung ausgesetzt. Doch erwartet es explizit nur seine Frau Jutta von ihm.

6-13 Obwohl der Vater alles Politische der Tochter in der Kindheit fernhielt (auch seine Vergangenheit wird nicht erwähnt), beschwert er sich später über Claudias Desinteresse an der “Weltpolitik” (43). Für Claudia wäre dies eine Gelegenheit, ihm zu sagen, daß genau er im wesentlichen die Ursache dafür ist. Sie unterläßt es, schweigt und lobt “Besserung”. Dieses Schweigen ist auch dem Kommunikationsprinzip des Textes geschuldet: Claudia würde einen Schuldigen benennen. Dem Leser bliebe nur noch das Betroffensein über ihr individuelles Schicksal; übrig bliebe nur die “Provokation des besonderen Falles” (Hörnigk).

6-14 Tatsächlich enden fast alle Kindheitserinnerungen Claudias mit der resignativen Einsicht “Ich lern-te zu schweigen” (146). “…​ ich begann zu schweigen, um nicht andere zu belästigen” (156) Die Schweigeerziehung in Elternhaus und Schule lassen in Claudia jede Neugier, erst recht an Politik, erlöschen. “Verquaste Bilder von Sexualität” begleiten sie für lange Zeit. Weder Eltern noch Lehrern kann sie ihre Nöte anvertrauen. “Ihre gewiß gravierenden, vom Autor kritisch ausgestellten Erfahrungen mit Eltern, Lehrern und Instanzen weisen wohl in Richtung auf eine Lebenshaltung, in der die Not des Liebesentzugs in die “Tugend” des Verzichts auf innige menschliche Bindungen umgeschlagen ist.”13

6-15 Was sie unter dem Eindruck ihrer Kindheit nachfolgend zu etablieren versucht, ist ein Lebenskonzept bar jeder Emotion. Nie will sie sich wieder einer Sache oder einer Person emotional verpflichten. Beide Verluste, der von Katharina und der des Onkels, lassen Claudia sich von der Umwelt abschotten.

Ich war überzeugt, daß ich niemals meine Distanz zu Menschen aufgeben durfte, um nicht hintergangen zu werden, um mich nicht selbst zu hintergehen. Im Hintergrund das Wissen um meine stete Bereitschaft, mich aufzugeben, Sehnsucht nach der Infantilität. (68)

Hans Kaufmann betonte 1986, daß mehr ein “Programm” als die Findung oder Wahrung der Identität der vierzigjährigen Protagonistin zur Disposition steht.

Im Buch wird gezeigt, wie nach dem Programm und der Praxis Claudias die Zielstellung funktioniert, das Miteinander der Menschen auf strenger Umzäunung der Privatsphäre des einzelnen zu begründen.14

Der Versuch Claudias, über ihre Vergangenheit ein anderes Verständnis zu ihrer Gegenwart zu erhalten, scheitert.

Die Vergangenheit ist nicht mehr auffindbar. …​ Meine Erinnerungen sind unwiderleglich geworden. Es war, wie ich es bewahrt habe, wie ich es bewahre. Meine Träume können nicht mehr beschädigt werden, meine Ängste nicht mehr gelöscht. (139)

Und ich bin der festen Überzeugung, es ist der sicherste Weg, verrückt zu werden, wenn man erst einmal anfängt zu ergründen, wer man eigentlich ist. (179)

“Gerade die Umkehrung der psychologischen Therapieausrichtung postuliert sie als adäquates Prinzip im Umgang mit sich selbst und ihrer Umwelt…​”

6-16 William Niven, für den die Novelle als Beispiel dafür steht, daß in der DDR ein Buch auch die Funktion der Psychoanalyse übernehmen konnte, bestätigt den Programmcharakter von Claudias Existenz in der Gegenwart. Er erwähnt dabei eine weitere Komponente der Novelle:

…​she sees her lack of emotion as pragmatism, her detachment as self-protection. By constantly condemning the impersonality of modern civilization and its dehumanizing effects - everything from postcards and newspaper advertisements to funerals, marriages and divorces - she can convince herself that her caution is both common sense and a symptom of a general malaise beyond her control. Her philosophy, whatever truth it might contain, is a psychological stratagem. 15

Es ist von “Zivilisation” die Rede, die Claudias Lebenskonzept der Abschottung wesentlich mit hervorgebracht hat. Es entsteht der Eindruck der Zwangsläufigkeit einer Biographie, wenn Claudia ihr emotionsloses Handeln mit dem Hinweis auf die Zivilisation rechtfertigen will. Doch der Autor gibt genügend Hinweise, daß es ihm nicht um die Beschreibung von determinierten Lebensumständen ähnlich des Naturalismus geht. Die hergestellten Zusammenhänge zwischen Historie, Psychologie und Sozialisation müssen in Wahrheit nicht so sein, in der Novelle aber schon: das Kommunikationsmodell des Autors erfordert es.

6-17 Die vielleicht überzeugendste Darstellung, wie die zu Beginn erwähnten Komponenten Identität der Protagonistin, Zivilisationskritik und Funktionsweise der Novelle in einem “Lesemodell” vereint werden können, gibt David Roberts. Er geht davon aus, daß der Text auf zweierlei Art gelesen werden muß. “Erstens muß der Leser zwischen der Erzählerin und dem Autor unterscheiden, indem er den psychologischen Subtext mitliest. Zweitens muß der Leser zwischen der Erzählerin und ihrer Wahrnehmung der Umwelt unterscheiden, indem er den sozialen Kontext mitliest.”16 Die erste Leseperspektive nennt er das “hermeneutische Lesemodell”:

Es operiert mit der Unterscheidung zwischen Oberfläche und Tiefe, zwischen dem was gesagt und dem, was nicht gesagt wird. …​ Offenbar übertreibt Claudia ihre Beteuerungen - Selbstrechtfertigung schlägt in Selbstanklage um. Es wird zunehmend klar, daß ihre ganze Lebensstrategie nicht die Antwort auf die Probleme sondern selber ihr Problem ist. […​] Im Blickpunkt dieses Modells stehen Subjektivität und Identität - die Frage nach Claudia als Autorin ihrer selbst. Es geht um die klassische moderne Erzählung des Subjekts, auch wenn sie in der entfremdeten Form des abwesenden Subjekts präsentiert wird, da diese Abwesenheit den Leser an dessen Stelle setzt, ihn zum Mitautor bzw. zum Psychoanalytiker macht.17

Letzteres erklärt, warum alle Rezensenten von einer Protagonistin ausgehen, “dessen Modellierung schon längst hinter ihm liegt, wenn es zu sprechen beginnt. Dieses Subjekt ist 'fertig', im Zustand seiner (beinahe) perfekten Panzerung.”18 Der Entschluß zur Etablierung dieser “Lebensstrategie” liegt in Claudias Jugend. Ein Kommilitone wirft ihr vor, “bewußtlos wie ein Tier zu leben.” (103) Auch hier kommt Franz Stanzels Hinweis auf die Erzähldistanz zum Tragen: diesmal in Form einer völligen Entfremdung zwischen erzählendem und erlebendem Ich. Übrig bleibt, Claudias “Lebensstrategie” auf den Prüfstand zu stellen, was jedoch den Rezipienten “als Mitautor und Psychoanalytiker” mit einschließt.

6-18 Die zweite bereits erwähnte Leseperspektive nennt Roberts das “funktionale Modell”. Es “überlagert die blockierte Erzählung des Subjekts mit der Perspektive des Beobachters. Beobachter, Verfremdung und modellhafte Konstruktion gehören zusammen: statt Selbstdeutung haben wir die kalte, distanzierte Registrierung des Alltagslebens.”19 Hermeneutisches und funktionales Modell (Vergangenheit und Gegenwart) führt Roberts in einem “symptomatischen Modell” wieder zusammen: Claudias Verlust der Vergangenheit und ihre Selbstentfremdung als Symptome münden in eine politische Kritik der existierenden DDR-Gesellschaft und in eine soziale Kritik der “Kosten der Zivilisation”.

6-19 Diese Trennung der “Leseperspektiven” mag Aufschluß über das Unbehagen einiger DDR-Rezensenten mit dem Hein´schen Text geben. So zweifelt Rüdiger Bernhardt an der Kompetenz des Lesers mit dessen “vorhandener Erfahrung”20. Dieser Zweifel konzentriert sich aber weniger auf das “hermeneutische Lesemodell”, sondern stößt sich an Claudia als Beobachterin. Er rekapituliert die anderen Figuren, um festzustellen, daß “alle von ähnlichen Eigenschaften gekennzeichnet sind wie die Ich-Erzählerin.” Das ausnahmslos düstere Bild der Gesellschaft macht Bernhardt Sorge.

Dadurch entsteht der Eindruck, daß die Fremdheit und Isolation der Ich-Erzählerin weniger aus ihrer Veranlagung entsteht, sondern Folge ihrer Erfahrungen und Erlebnisse ist.

Nun wäre solchen Erlebnissen, Eindrücken und Erfahrungen, die sicher im einzelnen vorhanden sind, aber in der Ballung sich fremd ausnehmen, dadurch zu begegnen, daß man der kritischen Distanz des Lesers vertraut. Es bleibt dahingestellt, ob diese kritische Distanz mit der vorhandenen Erfahrung des Publikums im Umgang mit Literatur möglich ist.21

Die “kritische Distanz” will Bernhardt auch auf die Claudia als Beobachterin erweitert wissen. Doch hier kann der Leser zu Recht annehmen, daß das Geschilderte so existieren könnte. Christoph Hein ist hier ganz der Chronist. Distanz ist bei der Reflektorfigur Claudia von Nutzen, wenn nicht sogar unbedingt erforderlich, bei der Erzählerin als Beobachter nicht. Natürlich nehmen sich Claudias “Eindrücke in der Ballung fremd aus”, doch ist das allein dem Kommunikationsmodell Heins geschuldet. Genauso wie Claudia keinen Schuldigen benennt, kann sie auch nicht warmherzige, optimistische Menschen als gutes Beispiel herausstellen. Das würde erstens ihrem Lebenskonzept zu wider laufen, denn sie sucht in den deformierten Beziehungen ihrer Mitmenschen die Bestätigung dafür, selektiert folglich als Ich-Erzähler nur diese. Zweitens bekäme die Novelle den Charakter einer Episode. Der Leser könnte sich mit dem Hinweis auf diese 'guten Figuren' zurücklehnen und wäre aus der “grundsätzlichen Aufforderung zur Auseinandersetzung, zur Kritik und Selbstkritik an sozialen Verhaltensmustern”22 entlassen. So sieht denn Hörnigk gerade den Verweis auf “Korrekturbedürftigkeit” auch seitens des Lesers darin, daß Claudias Umgebung ihre Haltung nicht in Frage stellt 23. Doch Bernhardt hoffte ebenso wie bei Loest fünf Jahre zuvor, daß die düsteren Erfahrungen Claudias “im Verhältnis zwischen point of view und Erzählerstandpunkt relativiert werden”24.

6-20 Antonia Grunenberg hebt wie das Gros der Rezensenten die kritische Auseinandersetzung mit der Person Claudias, der “modellhaften Konstruktion” der Novelle hervor. Doch ging sie von einer homogenen DDR-Rezeption aus, wenn sie schreibt:

Daß das in der DDR, deren Leserschaft trotz Generationswechsel und literarischen Neuerungen noch immer auf das Niveau der Lebenshilfeliteratur und der positiven Helden eingeschworen ist, als Provokation aufgegriffen wird, versteht sich von selbst.25

Wieder wird Rüdiger Bernhardt und Genossen mit der gesamten DDR-Leserschaft gleichgesetzt. Man könnte genauso gut behaupten, eine ganze Leserschaft ist nicht zur angemessenen Rezeption des Struwwelpeters in der Lage. So abwegig ist dieser Vergleich nicht, wenn Kaufmann, Hörnigk u.a. vom “Warnbild” sprechen und Niven von der Novelle als “piece of psychotherapy by example: moral shock as corrective.”26 Es ist ein sinnloses Unterfangen, Christoph Hein pädagogische Ambitionen eines Bertolt Brecht unterstellen zu wollen, aber jeder DDR-Rezipient konnte zumindest dessen Schema des Epischen Theaters abrufen, um sich so rechtzeitig der “Mitautorenschaft” zu gegenwärtigen: “Die epische Form macht den Zuschauer zum Betrachter, aber weckt seine Aktivität, erzwingt von ihm Entscheidungen…​”27

6-21 Rüdiger Bernhardt war 1983 nur einer von mehreren Rezensenten der Novelle in den “Weimarer Beiträgen”. Im selben Beitrag “Für und wider” sprach schon Brigitte Böttcher vom Hein´schen Text nur als “Modell”28 und Bernd Leistner vom “Kunst-Stück”29 . Letzterer ist es auch, der Heins Versuch, in den Schlußzeilen auch dem wankelmütigsten Leser die Identifikation mit der Protagonistin unmöglich zu machen, als nicht unbedingt notwendig erachtet:

So ist aber dieses Sprechen selbst ein 'falsches'. Und der Autor weiß mit der Maske diese Sprechens denn auch so umzugehen, daß seine Schutz- und Täuschungsfunktion (in bezug auf die sich mitteilende Figur) kenntlich wird. Vielleicht läßt er diese Funktion mitunter allzuoft hervortreten, so etwa in den platt geratenen zwanzig Schlußzeilen der Novelle.30

Es kann also trotz des neuen Kommunikationsmodells des Autors nicht von einem unbeweglichen, auf “Lebenshilfeliteratur eingeschworenen” Lesepublikum die Rede sein. Dieter Schlenstedt faßt das Neue im Begriff des “sozialistischen kritischen Realismus” zusammen.

Kritischer Realismus - darunter verstehe ich Verfahren künstlerischer Darstellung, die ihre Werte nicht positiv ausstellt, sondern zu bedenken gibt, indem sie Defizite vorstellt, Bilder, hinter denen das steckt, was gewünscht, erhofft wird, die die Phantasie mobilisieren, aber offen sind für konkretere Erfüllungen an positiven Gehalt.31

Nun rechtfertigt Claudia ihr Lebenskonzept neben den deformierten Beziehungen um sie herum auch mit dem Hinweis auf die Zivilisation als Verdrängungsmechanismus. Doch:

Den Prozeß der Identitätszerstörung durch Sozialisation haben andere Schriftsteller prägnanter und schärfer beschrieben. Neu bei Hein ist die Verschränkung von tradierten bürgerlichen Sozialisationsstrategien mit realsozialistischer Deformation.32

Hannes Krauss´ Feststellung ist auch für den DDR-Rezipienten zuzustimmen. Nur das Neue wäre dann besser andersherum zu bezeichnen: neu ist die “Verschränkung realsozialistischer Deformation” mit “bürgerlichen Sozialisationsstrategien.”

6-22 Gänzlich erklärt ist das Neue mit Blick auf Loests Wülff nicht. Genauer: während in den bisherigen Werken die Protagonisten sich aus dem öffentlichen Leben zurückziehen oder schon zurückgezogen haben, zieht sich Heins Protagonistin auch innerhalb des Privatlebens zurück. Sie hat durch ihren Vater nicht nur gelernt, über Politik zu schweigen, sondern auch über ihre Gefühle, Wünsche und Hoffnungen. Für Claudia stellt das Privatleben kein Refugium mehr gegen die Erwartungen der öffentlichen Welt dar. Es gibt nichts, woraus sie Mut und Hoffnung schöpfen könnte, denn sie kann sich selbst nicht entfliehen. Ihr Freund Henry dient mit seiner perfekteren Kunst der Verdrängung lediglich als Vorbild bei der Aufrechterhaltung ihres Lebenskonzeptes, besonders wenn es gilt, Zweifel daran zu zerstreuen. Die anderen Menschen achten Claudia aufgrund ihres beruflichen Erfolges und Funktionierens. Die Protagonistin distanziert sich zwar vom Verhalten der anderen, besucht sie jedoch regelmäßig. Zum einen dienen sie ihr als permanente Rechtfertigungsstütze, zum anderen mag von der Abscheu über die uneingestandenen Deformationen der anderen ein besonderer, unentrinnbarer Reiz ausgehen.

6-23 In mehreren Gesprächen benennt Hein die Grundeinstellung als Voraussetzung seines Kommunikationsmodells.

“Ich bin nicht der Auffassung, ich könnte oder sollte Leute auffordern, in einer bestimmten Weise zu leben oder zu denken”33

”Ich …​ bin nicht klüger als der Leser und kann nur in Dialog mit ihm treten.”34

Einen Dialog mit Menschen, “die über die gleiche Vielzahl an Informationen verfügen”. Ohne diese Einstellung wären die Anspielungen und Assoziationen in Claudias Verhalten und ihren Reflexionen nicht denkbar. Der Leser ist gefordert. Dies läßt Julia Hell den Begriff der “demokratischen Autorenschaft” prägen. Sie glaubt, eine politische Dimension in Heins Schreiben auszumachen:

…​namely the attempt to realize through the formal structure of his texts that which is lacking in the political system: the idea of participatory democracy. 35

Würde man bei dem Bild der demokratischen Autorenschaft bleiben, wäre es nur eine Autorenschaft im Rahmen einer sogenannten sozialistischen Demokratie: mitgestalten nur in vorgeschriebener Weise. Hein gibt durch zu viele künstlerische Mittel dem Leser zu verstehen, wie die Reflexionen seiner Protagonistin zu deuten sind. Die Diagnose des Leser-Psychoanalytikerslink: #item-literature.xhtml#fntarg_36[36] ist vorgegeben. Folgt der Leser nicht mehr dem Modell der Mitautorenschaft, ist er lediglich Rezipient “auf dem Niveau der Lebenshilfeliteratur”. Diese Art der Rezeption des Werkes wäre, wie bereits erwähnt, ohne Belustigung und Spannung. Jedoch wird der Leser, ebenso wie vielleicht Claudia in ihrem Handeln gegenüber anderen, von der 'Faszination der Abscheu' über die emotionale Perversität und Ödnis getrieben, die Novelle bis zum Ende zu lesen. Die Intention des Autors ist schwerlich zu unterlaufen.

Der abwesende Autor soll den Leser dazu aktivieren, Mitautor zu werden…​ Mit anderen Worten, das wirkliche Subjekt bzw. potentielle Subjekt des Textes ist der Leser. […​] er soll durch ihren (Claudias d. A.) Text auf den ängstlich verdeckten / aufgedeckten Subtext schauen…​37

Wenn ein “Subjekt” als Mitautor etwas machen “soll” (!), erhält nicht nur die “demokratische Autorenschaft”, sondern auch der Begriff “Subjekt” neuerlichen Erklärungsbedarf. Wichtiger in diesem Zusammenhang ist jedoch die Tatsache, daß “Identität zur wirkungsästhetischen Intention wird, die auf den Rezipienten bezogen wird”38. Diese Intention ist auf keinem Fall mit einer Protagonistin als Identifikationsfigur zu realisieren. Der Ich-Erzähler mit seiner vermittelten Authentizität bietet aber geradezu ein verlockendes Angebot zur Identifikation. Wie gelingt es dem Autor dennoch, eine größtmögliche Distanzierung des Lesers von seiner Protagonistin zu garantieren?

6-24 Der Novelle ist wie ein Motto in Kursivschrift ein Traum, “ein fernes Erinnern” vorangestellt39. Ein Ich-Erzähler sieht sich unter Lebensgefahr gezwungen, eine Brücke zu überqueren. Der Begleiter, dessen Gesichtszüge verschwommen bleiben, krallt sich im Arm des Erzählers fest. Es bleibt unklar, ob die Passage der beiden, ob einzeln oder zusammen, gelingt. Der Erzähler muß vom Leser als weiblicher vorausgesetzt werden, da er sich “die Schuhe abstreift” und sich nach den ersten Sätzen der Handlung definitiv als solcher zu verstehen gibt. Der Traum kann Claudia später auch aus anderen Gründen zugeordnet werden: zweimal tauchen die Kulissen in ihrer Erzählung wieder auf. Zuerst beim Ausflug zur Mühle am Fluß. Die prägnantere ebenfalls in einem Traumzustand. Unter Narkose, während der Abtreibung eines Kindes von ihrem Ex-Mann, sieht sie sich “im Gras verkriechen”. “Dann sind da Wälder, ein kühler verhangener Himmel, der Weg, der zu einer Brücke führt, brüchigen Resten. …​ Nein, die auf das Bett, den Stuhl Hingestreckte war nicht ich, bin nicht ich.” (107) Der Traum des Prologes startet geradezu mit dem Herausstellen der Nichtidentität des Erzählers. “Ich oder die Person, die vielleicht ich selbst bin, zögert. Ich - behaupten wir es …​” (5). Man mag die folgenden Motive wie die fünf entschlossenen Läufer mit “runenartigen Zeichen” vielseitig interpretieren können, die wichtigste Information ist die der Schwierigkeit des Erzählers beim Artikulieren von Identität und die Unmöglichkeit des Identifizierens mit ihm durch den Leser. Der Traum hat, im Gegensatz zum Beispiel zu Josefas geträumter Frauentagsansprache, einen strengen strukturellen Bezug zum folgenden Text. “The story that follows is an enactment of the dream scene.”40 Tatsächlich sind die möglichen Parallelen zum Text glaubwürdig deutbar. Dies würde jedoch nicht die Existenz des kursiven Textes als Prolog erklären. Für Peters ist das Ende der Traumsequenz deutlicher Hinweis darauf, daß diesem Prolog als Allegorie eine genaue Funktion im Text zukommt.

Indem Claudia das Geschilderte von den “alltäglichen Abziehbildern” abgrenzt, weist sie ihm eine weitere ästhetische Qualität zu. Wahrheit liegt nicht in der Abschilderung realer Verhältnisse, sondern in der Bildallegorie verborgen, die das Eigentliche, nämlich “Schrecken” und “ausgestandene Hilflosigkeit” festhält. Dem Leser wird damit gleich zu Beginn eine Rezeptionsperspektive vorgegeben, die die 'realen' Oberflächenstrukturen fragwürdig macht und als bloßen Ausdruck anderer tiefgreifender Sachverhalte kennzeichnet. 41

6-25 Trotz dieser Einleitung und des von Beginn an durchgehaltenen kühlen Tons ist eine mögliche Identifikation des Lesers mit Claudia zu Beginn nicht vollends ausgeschlossen. Es sind die Alltagserfahrungen der Protagonistin, die beim Leser auf Widerhall und Bestätigung stoßen könnten. Kleine Details wie das Wählen eines dem Wetter und Anlaß gemäßen Kleidungsstückes, ihr “gekränkter Geruchssinn” (vgl. 9) im Fahrstuhl und ihr sehnsüchtiger Blick auf die Briefkästen können dies bewirken. Doch das die gesamte Novelle durchziehende Motiv der Langeweile und Gleichgültigkeit evoziert eine immer stärker werdende Distanz des Lesers zur Protagonistin. Claudia langweilt sich bei den Eltern und Bekannten oder ist meistens müde nach der Arbeit. 'Langweilen', 'gleichgültig' und 'müde' sind die leitmotivischen Attribute zu Henry, zu allen Jugendlichen im Text und zu Claudias Verhältnis zu anderen Menschen. Während sich Henry im wahrsten Sinne 'zu Tode langweilt', ist Claudias Gleichgültigkeit Teil ihres Lebenskonzeptes, das Gefühle der Bedrohung und Verletzlichkeit verleugnet.

6-26 Ein weiteres Mittel, die den Leser zur kritischen Distanz und interpretierendem Nachvollzug von Claudias Äußerungen bewegen, ist die ausgestellte Widersprüchlichkeit der Protagonistin. Sie ist hier im Gegensatz zu Simrocks Widersprüchlichkeit ein vom Autor mit Bedacht gebrauchtes künstlerisches Mittel. Ein Widerspruch besteht zum einen zwischen ihren Worten und Handeln, zum anderen zwischen ihren einzelnen Äußerungen. Nachdem Claudia widerwillig an Henrys Beerdigung teilgenommen hatte, versucht sie, sich an Henry zu erinnern. “Ich wollte an Henry denken…​ Dann gab ich es auf.” (23) Doch im nächsten Kapitel erzählt sie von ihm und ihrem Kennenlernen. Weiterhin erzählt sie, daß sie “an irgendwelchen Abgründen und Schicksalen von Menschen nicht interessiert” (114) ist. Bernd Leistner machte sich jedoch die Mühe des Zählens:

Im speziellen 'sammelt' sie (hierbei allerdings, ohne sich dies als Leidenschaft einzugestehen) Ehegeschichten, diverse abstoßende Alltagspraktiken eines gewohnheitsmäßigen Zusammenlebens zwischen Mann und Frau…​ Neun Ehen vergegenwärtigt sie sich während ihres Monologes; und das Motiv der disparaten Ehe durchzieht auf diese Weise die Novelle als eine Art Zentralmotiv. 42

So bleiben ihr z. B. die “Abgründe” von Fred und Maria auch nach Henrys Tod erhalten. “Im Sommer fuhr ich wie in jedem Jahr an die See. Ich besuchte auch wieder Fred und Maria, und alles war so, wie es in den Jahren davor gewesen war.” (211) Widersprüchlich zeigt sich die Protagonistin auch in Ausübung ihres Berufes. Ihre Profession ist das Helfen, doch geht sie bei den Problemen anderer von unlösbaren aus. “Ich habe eigene, die auch nicht zu lösen sind.” (198) Ihr Arztberuf ist ihr bei dieser Verdrängungsarbeit von Nutzen. In dem sie anderer Leute Krankheiten behandelt, vermeidet sie jegliche Beschäftigung mit sich selbst. Dies wird vom Autor zu einem Höhepunkt getrieben. Claudia wird zu einer Frau mit Herzbeschwerden gerufen, kann ihr aber lediglich eine Beruhigungsspritze geben. “Ich sagte, daß diese Fälle in der Mehrzahl keine organischen Ursachen haben, sondern in gestörten Beziehungen zur Umwelt wurzeln.” (120) Dem Mann gegenüber kommt sie zur einer Einsicht, zu der sie 'in ihrem Fall' nie kommen wird: “Ihre Frau kann nur aus eigener Kraft gesund werden.” Ansonsten konzentriert Claudia weiterhin ihr berufliches Können auf äußere Wunden der Patienten, auf die Bekämpfung der Symptome.

6-27 Der wohl augenfälligste Widerspruch ist das Eingeständnis des Scheiterns ihres Lebenskonzeptes, sich, nach dem Motto 'Wer nicht liebt, leidet auch nicht', aller Gefühle zu entsagen.

Ich habe in Drachenblut gebadet, und kein Lindenblatt ließ mich irgendwo schutzlos. Aus dieser Haut komme ich nicht mehr heraus. In meiner unverletzbaren Hülle werde ich krepieren an Sehnsucht nach Katharina. (209)

Claudia beherzigt diese Einsicht jedoch nicht in ihrem weiteren Handeln. So entsteht der Eindruck eines 'safeguards' des Autors, der seinem Kommunikationsmodell nicht mehr traut und nur so die Distanzierung des Leser von Claudia garantiert sieht. Andererseits gelingt es dem Autor, einen wesentlichen Grund zu benennen für die Unfähigkeit Claudias, zu einer Identität zu finden. Nämlich daß derjenige die Gegenwart nur begreift, der einen Bezug zur Vergangenheit herstellt. “Wie das Individuum sich zu seiner Geschichte stellt, wird zum entscheidenden Aspekt seiner Identität erhoben. Subjekt der Geschichte zu sein, bedeutet […​], an ihr bewußt teilzunehmen.”43 Doch was heißt, “bewußt an der Geschichte teilnehmen?” Nicht den geringsten Verdacht einer Worthülse setzt sich Brigitte Böttchers 1983 gezogene Konsequenz aus: “Tod oder 'in Gesellschaft leben', kommunikativ, verantwortlich.”44

6-28 So glaubt J. H. Reid in Christoph Hein den Moralisten zu erkennen.

…​this assumption that reality can be understood places Hein in the Enlightment tradition which many of his West German colleagues have abandoned. In spite of his denials, Hein ist essentially a moralist. The insistence that his readers make moral choices is a fundamental aspect of the dialogue.45

Herzinger und Preußler gehen bis zur Formulierung eines Vorwurfs weiter. “Indem sich die Individuen von ihrer persönlichen Panzerung befreien, handeln sie politisch”46 , denn Heins Lösungsanspruch ist durch die Verbindung des Verhärtungsprozesses der Individuen mit gesellschaftlich-politischer Repression gesellschaftlicher Natur.

Lebenseigentlichkeit aber wird nicht allein durch die politische Zwangsverhältnisse verhindert, sondern auch durch Konsumorientierung […​] Die Gemeinschaft der Intelligenz, die der Kulturschaffenden selbst, wird bedroht durch universelle Verflachung.47

Nach Meinung von Herzinger/Preußler begründen eine Reihe von DDR-Autoren das Scheitern des Sozialismus mit dem ungenügenden Bruch mit der westlichen Zivilisation. Sie behaupten,

daß die literarische Zivilisationskritik einen Legitimationsdiskurs absichert, der den sozialistischen Utopiekern vor seiner Beschädigung durch den Bankrott des Realsozialismus zu retten versucht und zudem eine Rechtfertigungsargumentation für das Fortbestehen des sozialistischen Staates bereitstellt, die dessen offizielle Ideologie nicht mehr zu leisten vermag.48

In der Mehrzahl beziehen sich die Argumente auf Äußerungen des Essayisten und Politikers Christoph Hein. Doch spricht eine umstrittene, diskutierte Autorenposition nicht gegen das Überleben seines künstlerischen Werks.

Wir haben Behagen oder Unbehagen an einem Kunstwerk, uns gefällt, mißfällt es auch wegen einer Tendenz, die da noch mitschwingt, einer anarchistischen oder asozialen oder sozialen. Das ist die moralisch-pädagogische Seite, die jedes Werk auch hat, unwillentlich oder widerwillig, diese Aufgabe muß es erfüllen, durch und für die Gesellschaft. 49

6-29 In Anlehnung an Walter Benjamin sah sich Christoph Hein in Gesprächen in erster Linie als Chronist, so daß der Aufbau-Verlag seine Sekundärliteratur-Anthologie unter dem Titel Chronist ohne Botschaft herausgab. Sich Hein als Autor ohne jede Botschaft zu denken, ist nahezu unmöglich. Die Anregung zum Nachdenken ist zwar keine explizit ausgesprochene, vorgegebene, aber doch eine Botschaft! Wie kann jedoch ein Autor, der mit seiner Protagonistin mehr ein Konstrukt schuf als denn eine authentische, lebendige Figur, noch ein Chronist sein? Diese Frage läßt sich befriedigend nur mit dem Hinweis auf David Roberts´ aufgestellten Lesemodell erklären: Chronist kann er nur sein, wenn er Claudia beschreiben, erzählen läßt über Ereignisse, Umgebung und Befindlichkeiten der anderen. Kurz: “Chroniken” über “Land und Leute” erhält der Leser nur im “funktionalen Lesemodell” mit Claudia als Beobachter.

1 Christoph Hein: Der fremde Freund, Berlin u. Weimar 1987 (Aufbau-Verlag), alle Zitate folgen dieser Ausgabe

2 Hörnigk, Frank: Christoph Hein. In: Literatur der Deutschen Demokratischen Republik. Einzeldarstellungen. Hrgeg. von einem Autorenkollektiv unter Leitung von H. J. Geerdts, Band 3, Berlin-Ost 1987, S. 111

3 Grunenberg, Antonia: Geschichte und Entfremdung. Christoph Hein als Autor der DDR. In: Klaus Hammer (Hrg.): Chronist ohne Botschaft - Christoph Hein. Ein Arbeitsbuch. Berlin, Weimar 1992, S. 77

4 »Schreiben als Aufbegehren gegen die Sterblichkeit«, Gespräch Heins mit Uwe Hornauer und Norbert Janowski. In: Lothar Baier (Hrg.): Christoph Hein, Texte, Daten, Bilder, Frankfurt a.M. 1990, S. 76

5 H. Reid: “That she cannot bring herself to spell out the name of the town in full, although all other places, Berlin Magdeburg, Wörlitz are named, suggests that what occurred here remains undigested.” Aus: Reading Christoph Hein. In: Socialism and the Literary Imagination, New York, Oxford 1991, S. 221

6 Niven, William J.: The vanquished self: Christoph Hein´s Drachenblut and Der Tangospieler. In: Journal of European Studies, Vol. 22, Part 2, Number 86, March 1992, S. 130

7 Grunenberg, Antonia: Geschichte und Entfremdung. Christoph Hein als Autor der DDR. In: Klaus Hammer (Hrg.): Chronist ohne Botschaft - Christoph Hein. Ein Arbeitsbuch. Berlin, Weimar 1992, S. 73f

8 Peters, Peter: “Ich Wer ist das”. Aspekte der Subjektdiskussion in Prosa und Drama der DDR (1976-1989), Frankfurt/M. 1993, S. 80

9 Antonia Grunenberg: s. Fußn. 120, S. 73

10 Peter Peters: s. Fußn. 121, S. 78

11 Hell, Julia: Christoph Hein´s Der Fremde Freund/Drachenblut and the Antinomies of Writing under <Real Existing Socialism>. In: Colloquia Germanica, Band 25, H. 3/4, 1992, S. 326

12 ebd.

13 Kaufmann, Hans: Christoph Hein in der Debatte. In: ders.: Über DDR-Literatur, Beiträge aus 25 Jahren. Berlin, Weimar 1986, S. 235

14 ebd.

15 Niven, William J.: The vanquished self: Christoph Hein´s Drachenblut and Der Tangospieler. In: Journal of European Studies, Vol. 22, Part 2, Number 86, March 1992, S. 131

16 Roberts, David: Das Auge der Kamera. Christoph Heins Drachenblut. In: Paul Michael Lutzeler (Hrg): Spätmoderne und Postmoderne: Beiträge zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, Frankfurt/M. 1991, S. 227

17 ebd.

18 Emmerich, Wolfgang: »Dialektik der Aufklärung« in der jüngeren DDR-Literatur. In: Positionen 5, Halle, Leipzig 1988, S. 132

19 David Roberts: s. Fußn. 130

20 Bernhardt, Rüdiger: Für und wider, in: Lothar Baier, Hrg.: Christoph Hein, Texte, Daten, Bilder, Frankfurt a.M. 1990, S. 141; W. Hartinger glaubt gar, daß der Leser die distanzierte Rezeption erst üben muß: “…​ um ästhetische Signale wahrnehmen zu können, bedarf es der Schulung des Leser, nicht zuletzt durch den entschiedenen Einsatz der Literaturwissenschaftler.” In: DDR-Literaturentwicklung in der Diskussion, H. Haase, W. Hartinger, U. Heukenkamp, K. Jarmatz, J. Pischel, D. Schlenstedt. In: Weimarer Beiträge, 30. Jg., H. 10/1984, S. 1609

21 ebd. S. 140f

22 Hörnigk, Frank: Christoph Hein. In: “Literatur der Deutschen Demokratischen Republik. Einzeldarstellungen” Hrgeg. von einem Autorenkollektiv unter Leitung von H. J. Geerdts, Band 3, Berlin-Ost 1987, S. 113

23 ebd.

24 Rüdiger Bernhardt: s. Fußn. 135, S. 142

25 Grunenberg, Antonia: Geschichte und Entfremdung. Christoph Hein als Autor der DDR, in: Hammer, Klaus (Hrg.): Chronist ohne Botschaft - Christoph Hein. Ein Arbeitsbuch. Berlin, Weimar 1992, S. 79

26 Niven, William J.: The vanquished self: Christoph Hein´s Drachenblut and Der Tangospieler. In: Journal of European Studies, Vol. 22, Part 2, Number 86, March 1992, S. 133

27 Vgl. Brecht, Bertolt: Vergnügungstheater oder Lehrtheater? In: Brecht. Ein Lesebuch für unsere Zeit, Berlin, Weimar 1987, S. 384

28 Böttcher, Brigitte: Diagnose eines unheilbaren Zustandes. Christoph Hein: »Der fremde Freund«. In: Klaus Hammer (Hrg.): Chronist ohne Botschaft - Christoph Hein. Ein Arbeitsbuch. Berlin, Weimar 1992, S. 84f

29 Leistner, Bernd: Für und wider: Der fremde Freund. In: Klaus Hammer (Hrg.): Chronist ohne Botschaft - Christoph Hein. Ein Arbeitsbuch. Berlin, Weimar 1992, S. 91

30 ebd. S. 90

31 DDR-Literaturentwicklung in der Diskussion, H. Haase, W. Hartinger, U. Heukenkamp, K. Jarmatz, J. Pischel, D. Schlenstedt. In: Weimarer Beiträge, 30. Jg., H. 10/1984, S. 1605

32 Krauss, Hannes: Mit geliehenen Worten das Schweigen brechen. In: Frauke Meyer-Gosau (Red.): Christoph Hein, Text + Kritik H. 111, München 1991, S. 21

33 Gespräch mit Christoph Hein. In: Öffentlich arbeiten. Essais und Gespräche. Berlin, Weimar 1988, S. 123

34 Brender, H./ Hüfner, A: »Ich kann mein Publikum nicht belehren«, Gespräch mit Christoph Hein. In: Lothar Baier, Hrg.: Christoph Hein, Texte, Daten, Bilder, Frankfurt a.M. 1990, S. 71

35 Hell, Julia: Christoph Hein´s Der Fremde Freund/Drachenblut and the Antinomies of Writing under <Real Existing Socialism>. In: Colloquia Germanica, Band 25, H. 3/4, 1992, S. 311

36 vgl. Roberts, David: Das Auge der Kamera. Christoph Heins Drachenblut. In: Paul Michael Lutzeler (Hrg): Spätmoderne und Postmoderne: Beiträge zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, Frankfurt/M. 1991, S. 228

37 Roberts, David: Das Auge der Kamera. Christoph Heins Drachenblut. In: Paul Michael Lutzeler (Hrg): Spätmoderne und Postmoderne: Beiträge zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, Frankfurt/M. 1991, S. 226 (Dieser Beitrag stand nur in deutscher Übersetzung zur Verfügung, so daß das Wort “soll” eventuell nicht dem Autor selbst “angelastet” werden kann.)

38 Peters, Peter: Ich Wer ist das. Aspekte der Subjektdiskussion in Prosa und Drama der DDR (1976-1989), Frankfurt/M. 1993, S. 108

39 Die Wirkung von Träumen auf den Leser wurde schon im Zusammenhang mit Marons Josefa erwähnt (S. 54).

40 Shaw, Gisela: Christoph Hein: The Novelist as Dramatist Manqué. In: Arthur Williams, Stuart Parkes, Roland Smith (Hrg.): Literature on the Threshold: The German Novel in the 1980s, New York 1990, S. 94

41 Peter Peters: s. Fußn. 153, S. 77

42 Leistner, Bernd: Für und wider: Der fremde Freund. In: Klaus Hammer (Hrg.): Chronist ohne Botschaft - Christoph Hein. Ein Arbeitsbuch. Berlin, Weimar 1992, S. 88, S. 89

43 Peters, Peter: Ich Wer ist das. Aspekte der Subjektdiskussion in Prosa und Drama der DDR (1976-1989), Frankfurt/M. 1993, S. 107

44 Böttcher, Brigitte: Diagnose eines unheilbaren Zustandes. Christoph Hein: »Der fremde Freund«. In: Klaus Hammer (Hrg.): Chronist ohne Botschaft - Christoph Hein. Ein Arbeitsbuch. Berlin, Weimar 1992, S. 87

45 Reid, J.H.: Reading Christoph Hein. In: Socialism and the Literary Imagination, New York, Oxford 1991, S. 226, Reid verweist auf das Gespräch Heins mit Krystof Jachimczak. In: Sinn und Form, 1988, H. 2, S. 342

46 Herzinger, R./Preußler, H-P.: Vom Äußersten zum Ersten. DDR-Literatur in der Tradition deutscher Zivilisations-kritik. In: Literatur in der DDR, Rückblicke, Sonderband Text + Kritik, Hrg. Heinz Ludwig Arnold und Frauke Meyer-Gosau, München 1991, S. 204

47 ebd.

48 ebd. S. 195, vgl. auch Emmerichs Vorwürfe (S. 5)

49 Brender, H./ Hüfner, A: »Ich kann mein Publikum nicht belehren«, Gespräch mit Christoph Hein. In: Lothar Baier (Hrg.): Christoph Hein, Texte, Daten, Bilder, Frankfurt a.M. 1990, S. 71

Schlussbemerkung

Kapitel 7 - Abschnitt 01 Als wichtigste Gemeinsamkeit der vier Autoren gilt festzuhalten, dass ihren Werken der Glaube an die Persönlichkeit zugrunde liegt. Das Individuum könnte unter entsprechenden Umständen zu einer Identität finden; oder: kann zu einer den Umständen entsprechenden Identität finden. Dies gilt auch für Maron und Hein: besonders Claudias Reflexionen sind im “Spannungsfeld von Folie und Novum zu lesen…​ Die Folie bildet der bürgerliche Persönlichkeitsglaube.”1 Auch Marons Josefa könnte wie Claudia beim Leser zum Ende hin “wirkungsästhetische Rezeptionsimpulse entfalten”. Peters, der allerdings bei seinem Fazit auch Marons Überläuferin (1986) miteinbezieht, ist sich dessen sicher:

Alle Bemühungen um einen radikalen und kompromißlosen Selbstbezug scheitern und münden in die Beschleunigung des Ichverlusts. Sie (Maron, d. A.) führt mithin falsche Konzepte der Subjektbewahrung an ihren Protagonistinnen vor, um aus der Negation Gegenimpulse freizusetzen in Hinblick auf Bekräftigung der subjektiven Erfahrung beim Rezipienten.2

Die noch ausgeprägte Identifikationshaltung des Lesers gegenüber Josefa dürfte jedoch diese Freisetzung stark erschweren bis völlig in Frage stellen. Die Abkehr oder Resignation vor den Umständen, die zum Scheitern von Josefas Identitätswahrung beitrugen, stehen ebenfalls sehr im Vordergrund. Vom “betriebenen” Sozialismus geht keine Hoffnung aus; die Sorge und Aufmerksamkeit der vier Autoren gilt nicht mehr der Entwicklung einer Gesellschaftsordung, sondern ist gänzlich auf die Individuen fixiert, bei denen der Sozialismus nur noch den Grad des Selbstbewußtseins oder Selbstzweifels auf dem Weg zu einer Identität variieren kann. Identität wird nicht mehr allein durch die gesellschaftlich-politischen Verhältnisse determiniert.

7-02 Allen Romanen gemein ist der Held als zentrales Strukturelement. Einzig bei Hein bekommt die Protagonistin Claudia mehr und mehr den Status einer gestischen Figur: Der Gestus der Langeweile und Gleichgültigkeit, von allen ausgehend, entindividualisiert sie, schiebt sich als Strukturelement des Textes über die Person. Die Negation dieses Gestus´ durch den Leser bildet die pragmatische Dimension des Hein´schen Textes.

7-03 Die Protagonisten haben einige Gemeinsamkeiten. Sie sind alle keine Arbeiter, und sie zeichnen ein desillusionierendes Bild der Arbeitswelt, besonders von körperlicher Arbeit. Alle finden sie des öfteren Trost im Alkohol, teilweise im Tablettenkonsum. Kinder sehen sie - zumindestens theoretisch - als gleichwertige Menschen an und sehen in ihnen nicht ein Surrogat für erlittene Schmach und Liebesentzug.

7-04 Es mag Zufall sein oder nicht: die beiden Protagonisten, von denen der Leser annehmen kann, daß sie ihre Identität gefunden und gewahrt haben, ziehen ihre Kraft aus dem Privatleben, aus der Beziehung zu einem geliebten Menschen. Für Josefa und Claudia gibt es keine Trennung zwischen Privat- und Arbeitswelt. Josefas Totalitätsanspruch ermöglicht ihr nicht die Wahrung ihrer Identität nur durch den Bezug zu einer Welt. Für Claudia existiert eine solche Trennung nicht einmal in ihren Erwägungen. Ihr Lebenskonzept, ihre Ideologie der “Charakterpanzerung” (Peters) gilt immer, ganz gleich wo. So stellt Bernd Leistner die einzige Erschütterung ihres Konzeptes als “die unerhörte Begebenheit” und zugleich Claudias Erzählanlaß heraus:

Was Claudia an sich erfahren hatte, war ihre Anfechtbarkeit, war die Tatsache, daß ein Mann wie […​] Henry Sommer sie ernstlich zu affizieren vermochte. Ihr Schreibanlaß ist schließlich der, daß sie sich bewogen fühlt, eine 'Erschütterung' ihrer selbst - und zwar in ihrem, ihrem Lebenskonzept entsprechenden Sinne - zu bewältigen.3

7-05 Nur bei Christoph Hein kann von einer Distanz des Autors zu seiner Protagonistin die Rede sein. Dies läßt David Roberts vom “abwesenden Autor”4 sprechen. Er wählt diesen Ausdruck zwar um folgen zu lassen, daß so der Leser aktiviert werden soll, “Mitautor” zu werden, doch erscheint der Begriff etwas unglücklich gewählt. Für Brigitte Böttcher erscheint Claudia “mehr als Medium des Autors denn als eigenständige Figur, die Ich-Erzählerin als ein verdeckter auktorialer Erzähler.” Für Frank Hörnigk ist es gerade die “textimmanente Distanz zur Ich-Erzählerin”, in der “der Standpunkt des Autors für die Rezeption durchlässig gemacht wird.” Der Standpunkt des Autors ist also allgegenwärtig, so daß die Rede vom “abwesenden Autor” mehr verwirrt als klärt.

7-06 Loests Wülff und Claudia sind die einzigen Protagonisten, die als Ich-Erzähler ihre Zufriedenheit über ihr gegenwärtiges Leben artikulieren dürfen. Und das in der DDR. Der Vorwurf der subjektiven Übertreibung, die nicht das 'wahre Wesen der Epoche kennzeichnet', war vorprogrammiert. So verteidigen dann beide Protagonisten ihre persönlichen Erfahrungen im voraus. Wülff tut das in der bereits zitierten Weise. Claudia schickt ihren Erinnerungen an den anzüglichen Sportlehrer folgenden Kommentar nach:

Natürlich ist das alles von mir übertrieben, zugespitzt subjektiv, unhaltbar. Eine verstiegene private Ansicht, ohne ausreichende Kenntnis der wirklichen Probleme, Schwierigkeiten und Erfolge. Natürlich fehlt mir die Übersicht, um solche Erlebnisse richtig einschätzen zu können. Mir fehlt die Übersicht, weil ich noch immer auf der Matte liege. (136)

Doch die berechenbaren Argumente von Neubert und Bernhardt zu beiden Büchern waren vielleicht auch die Garantie ihres Erscheinens in der DDR. Becker und Maron mit ihren personalen bzw. auktorialen Erzählern konnten ohne 'relativierende Einschübe' nicht veröffentlicht werden. Einem Ich-Erzähler konnten man das in seiner “fehlenden Übersicht” schon mal 'durchgehen lassen'.

7-07 Während Hein auf Distanz zu seiner Protagonistin geht, setzt Loest auf Identifikation und Einfühlung seitens des Lesers. Wolfgang Wülff erscheint von den vorgestellten Protagonisten als der authentischste, lebendigste Charakter. Probleme mit der Identität sind auch nicht durch “Radiolämpchen” auszulösen. Ein Indiz für Identität ist der Umgang mit dem eigenen Namen. Im spöttischen Selbstgespräch erwähnt er oft seinen Namen, macht sich im Zusammenhang mit seiner neuen Gefährtin Gedanken um ihn. Claudia erwähnt ihren Namen nie. Er wird nur beiläufig von jemand anders erwähnt (78).

7-08 Wülff trägt Züge eines Schelms. Sowohl auf Loest als auch auf Hein treffen Hans Kaufmanns “ästhetischen Wertungen” zu:

Komische Wertungen gehören zu den wichtigsten ästhetischen Möglichkeiten, die sich aus dem Verzicht auf den erhobenen Zeigefinger ergeben: sie signalisieren das Verstehen eines Problems, das Durchschauen von Zusammenhängen, vermitteln Überlegenheit, führen die Dinge auf ihr Maß zurück, sie sprechen von und zu Menschen, die unter sich keinen Sklaven sehen wollen und über sich keinen Herrn.

Die Grundbeziehung einer einerseits unterstellten, andererseits herzustellenden Partnerschaft von Autor und Leser suchen auch die mehr kathartisch orientierten Poetiken zu verwirklichen, die auf direkte geistig-moralisch-emotionale Ansteckung des Lesers mit den Wertvorstellungen des Autors ausgehen. Als Gegenposition zum Komischen zeichnet sich eine Tendenz zum Elegischen …​ Der Autor läßt uns seinen Pulsschlag fühlen …​ Der Verzicht auf komische Wertung impliziert, daß Bedrohliches als unbewältigt, noch vor uns liegend stehenbleibt.5

Hein erhebt mit seinem Kommunikationsangebot an den Leser nicht den “Zeigefinger”, legt ihn aber auf die Wunden jeder modernen und brüchigen Kommunität. Loests Buch schuf wichtigen und unterhaltsamen Öffentlichkeitsersatz. Heins deutet darüber hinaus die Möglichkeit der Veränderung an. Eine wichtige Voraussetzung von Veränderungen in der Gegenwart ist ihm die Beschäftigung und Annahme der Vergangenheit. Daß Hein in der Figur der Claudia zwar ein Konstrukt, aber doch ein in dieser Form noch nicht dagewesenes schuf, illustriert unfreiwillig Wolfgang Emmerich:

Wo die Geschichte in ihrer Gesamtheit …​ nur noch als Alptraum erlebt wird, hat auch das Träumen von einer besseren Zukunft aufgehört. Die Utopie hat keinen Ort mehr, weder in der Vergangenheit noch in der Gegenwart und auch nicht in der Zukunft.6

Doch Christoph Hein hat gute Gründe, den fremden Freund trotz “müder Blumen”, “dreckigen Schnees” und jeder Menge umherstehender “Autowracks” “ein optimistisches Buch” zu nennen.

7-09 Die Untersuchung der vier Prosawerke zeigte, daß die DDR-Autoren nicht d e n exemplarischen Protagonisten modellierten, der als Individuum im repressiven System “in seiner Verweigerung Authentizität erfährt”. Wäre es so, käme dem Sozialismus bei der Frage nach der Identität des Individuums eine große Bedeutung zu, - die er jedoch nie hatte und haben konnte. Das Individuum steht im Mittelpunkt der Autoren, mit oder ohne Sozialismus. Letzterer “spielt als Sinnzentrum keinerlei Rolle mehr”7

7-10 Die Helden erscheinen authentisch und lebendig wie Wülff und Josefa, oder kommen als “Demonstrationsobjekt” daher wie Simrock und Claudia. Im Schlußbild könnte auch die betäubte Josefa als “Negativdemonstration” gesehen werden. Trotz ihrer Lebendigkeit und Authentizität stellt Josefa im zweiten Teil des Romans nicht mehr die Identifikationsfigur dar wie zu Beginn. Und obwohl der etwas “bescheidwisserische” Simrock nicht allzuviel Sympathie auf sich zu ziehen vermag, kann der Leser sich mit seinen Taten vollstens identifizieren.

7-11 Zu ihrer Identität finden der spontane, lebendige Wülff wie auch der ideologisch denkende Simrock. Mit Claudia und Josefa sind die Protagonisten, die weit entfernt von einer Identität ohne Selbstzweifel sind, ebenfalls grundverschieden. Für das Formulieren einer Tendenz innerhalb der gesamten DDR-Prosa in ihren letzten beiden Jahrzehnten sind vier Autoren mit nur jeweils einem Werk nicht ausreichend. Das Anliegen dieser Arbeit war es, die Verschiedenartigkeit der Protagonisten aufzuzeigen. Mit unterschiedlichen künstlichen Mitteln und Strukturen schufen sie Protagonisten, die durch ihr Handeln oder in ihrer Wirkung auf den Leser an eine Persönlichkeit glauben lassen; an deren Möglichkeit der Identitätsfindung und Wahrung in einem repressiven System. Die vier Romane sind ein Stück DDR-Literatur auch deshalb, weil ihre Autoren von der Breitenwirksamkeit von Literatur überzeugt waren und diese Überzeugung in den Werken ihren Niederschlag fand.

1 Andreotti, Mario: Die Struktur der modernen Literatur. Neue Wege in der Textanalyse. Bern u.a. 1990, S. 112

2 Peters, Peter: “Ich Wer ist das”. Aspekte der Subjektdiskussion in Prosa und Drama der DDR (1976-1989), Frankfurt/M. 1993, S. 280f

3 Leistner, Bernd: Für und wider: Der fremde Freund. In: Klaus Hammer (Hrg.): Chronist ohne Botschaft - Christoph Hein. Ein Arbeitsbuch. Berlin, Weimar 1992, S. 90

4 Roberts, David: Das Auge der Kamera. Christoph Heins Drachenblut. In: Paul Michael Lutzeler (Hrg): Spätmoderne und Postmoderne: Beiträge zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, Frankfurt/M. 1991, S. 226

5 Kaufmann, Hans: Zur DDR-Literatur der siebziger Jahre. In: ders.: Über DDR-Literatur, Beiträge aus 25 Jahren. Berlin, Weimar 1986, S. 154f

6 Emmerich, Wolfgang: Der verlorenen Faden. Probleme des Erzählens in den siebziger Jahren. In: Hohendahl/Herminghouse (Hrg): Literatur der DDR in den siebziger Jahren, Frankfurt/M. 1983, S. 182

7 Peters, Peter: Ich Wer ist das. Aspekte der Subjektdiskussion in Prosa und Drama der DDR (1976-1989), Frankfurt/M. 1993, S. 282

Literaturverzeichnis zur DDR-Literatur

Primärliteratur

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Sekundärliteratur zur Literatur und Gesellschaft der DDR der 70er und 80er Jahre; und literaturwiss. Werke

Andreotti, Mario: Die Struktur der modernen Literatur. Neue Wege in der Textanalyse. Bern u.a. 1990

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Literaturverzeichnis zu Erich Loest

Primärliteratur

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Sekundärliteratur zu Erich Loest

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Literaturverzeichnis zu Jurek Becker

Primärliteratur

Jurek Becker: Schlaflose Tage. Frankfurt/M. 1994 (st 626)

Sekundärliteratur zu Jurek Becker

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Literaturverzeichnis zu Monika Maron

Primärliteratur

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Sekundärliteratur zu Monika Maron

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Emmerich, Wolfgang: Kleine Literaturgeschichte der DDR. Darmstadt 1984

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Literaturverzeichnis zu Christoph Hein

Primärliteratur

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Behn-Liebherz: Christoph Hein. In: Kritisches Lexikon zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Hrsg. Heinz Ludwig Arnold. München 1978ff

Bernhardt, Rüdiger: Für und wider. In: Lothar Baier (Hrg.): Christoph Hein, Texte, Daten, Bilder, Frankfurt a.M. 1990

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Dieckmann, Friedrich: Christoph Hein, Thomas Mann und der Tangospieler. In: Klaus Hammer (Hrg.): Chronist ohne Botschaft - Christoph Hein. Ein Arbeitsbuch. Berlin, Weimar 1992

Emmerich, Wolfgang: »Dialektik der Aufklärung« in der jüngeren DDR-Literatur. In: Positionen 5, Halle, Leipzig 1988

Emmerich, Wolfgang: Der verlorenen Faden. Probleme des Erzählens in den siebziger Jahren. In: Hohendahl/Herminghouse (Hrg): Literatur der DDR in den siebziger Jahren, Frankfurt/M. 1983

Fischer, Bernd: Drachenblut. Christoph Heins »Fremde Freundin«. In: Klaus Hammer (Hrg.): Chronist ohne Botschaft - Christoph Hein. Ein Arbeitsbuch. Berlin, Weimar 1992

Grunenberg, Antonia: Geschichte und Entfremdung. Christoph Hein als Autor der DDR. In: Klaus Hammer (Hrg.): Chronist ohne Botschaft - Christoph Hein. Ein Arbeitsbuch. Berlin, Weimar 1992

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Hornauer, U. / Janowski, N.: »Schreiben als Aufbegehren gegen die Sterblichkeit«, Gespräch mit Christoph Hein. In: Lothar Baier (Hrg.): Christoph Hein, Texte, Daten, Bilder, Frankfurt a.M. 1990, S. 76

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Krauss, Hannes: Mit geliehenen Worten das Schweigen brechen. In: Frauke Meyer-Gosau (Red.): Christoph Hein, Text + Kritik H. 111, München 1991

Lehmann, Joachim: Christoph Hein - Chronist und »historischer Materialist«. In: Frauke Meyer-Gosau (Red.): Christoph Hein, Text
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Löffler, Sigrid: “Die alten Themen habe ich noch, jetzt kommen neue dazu”. Gespräch mit Christoph Hein (März 1990). In: Lothar Baier (Hrg.): Christoph Hein, Texte, Daten, Bilder, Frankfurt a.M. 1990

Lücke, Bärbel: Christoph Hein: Drachenblut, München 1989 (Oldenbourg Interpretationen)

Mayer, Hans: Rede für Christoph Hein, Zur Verleihung des Erich-Fried-Preises, gehalten im Wiener Burgtheater am 6. Mai 1990. In: Lothar Baier (Hrg.): Christoph Hein, Texte, Daten, Bilder, Frankfurt a.M. 1990

Meyer-Gosau, Frauke: Christoph Hein, Politiker. In: Klaus Hammer (Hrg.): Chronist ohne Botschaft - Christoph Hein. Ein Arbeitsbuch. Berlin, Weimar 1992

Meyer-Gosau, Frauke: »Ich bin der Leser, für den ich schreibe« Gespräch mit Christoph Hein. In: Frauke Meyer-Gosau (Red.): Christoph Hein, Text + Kritik H. 111, München 1991

Niven, William J.: The vanquished self: Christoph Hein´s Drachenblut and Der Tangospieler. In: Journal of European Studies, Vol. 22, Part 2, Number 86, March 1992

Peters, Peter: Ich Wer ist das. Aspekte der Subjektdiskussion in Prosa und Drama der DDR (1976-1989), Frankfurt/M. 1993

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Slibar, Neva / Volk, Rosanda: Das Spiegelkabinett unseres Kopfes - Schreibverfahren und Bilderwelt bei Christoph Hein. In: Frauke Meyer-Gosau (Red.): Christoph Hein, Text + Kritik H. 111, München 1991

Thiele, Eckhard: Engagiert - wofür? Zu Christoph Heins öffentlichen Erklärungen nach der »Wende« in der DDR. In: Frauke Meyer-Gosau (Red.): Christoph Hein, Text + Kritik H. 111, München 1991

Wittstock, Uwe: Letzte Liebe in der Seelenwüste - Die Novelle »Drachenblut«, in: ders.: Von der Stalinallee zum Prenlauer Berg, Wege der DDR-Literatur 1949 - 1989

Wittstock, Uwe: Kammerkonzert mit Trillerpfeife - »Der Tangospieler« - Die Talente und Untugenden Christoph Heins. In: ders.: Von der Stalinallee zum Prenlauer Berg, Wege der DDR-Literatur 1949 - 1989