In der Berliner Zeitung vom 8.10.2016 führte Cornelia Geißler mit Wolf Biermann ein Interview. Im folgenden Auszug geht es mal nicht um seine Vergangenheit, sondern um die erfreuliche und z.T. gruselige Gegenwart.
Ihre jüngste Tochter wird in diesem Jahr 16 Jahre alt: Welches Deutschland wünschen Sie sich für Ihre Zukunft?
Och, da kann ich mir gar nichts wünschen. Deutschland ist das wohlhabendste und freieste Land in der ganzen Welt. Ohne Übertreibung. Allein die Globalisierung seit 1990 hat das Einkommen der Deutschen enorm erhöht. Viel schneller als in Amerika und sehr viel schneller als in Frankreich. Dass das wieder seine Tücken und Gefahren hat, das wissen Sie selber …
Sorgen Sie solche Erscheinungen wie die AfD oder Pegida? Diese Bewegungen sind doch auch Reaktionen auf wirkliche oder eingebildete Verluste.
Ja, ganz bestimmt mehr auf eingebildete Verluste! Darüber habe ich lange nachgedacht und wenig darüber geschrieben. Alle Menschen sind so: Wenn ihnen etwas Gutes passiert, wenn ihnen geholfen wird, wenn sie also einen Grund haben, dankbar zu sein, dann verspüren sie den Drang, sich zu revanchieren. Das ist eine Frage der Selbstachtung. Wenn man aber bemerkt, dass man absolut keine Chance hat, sich irgendwie zu revanchieren, dann gerät man in die große Gefahr, dass man die Gaben, die man bekommen hat, klein redet und vor allem schlecht redet: Die Motive für die Hilfe waren gar nicht uneigennützig, sondern sollten mich abhängig machen, mich demütigen. Dadurch gerät man auf die schiefe Ebene und rutscht ab in den Hass
Dankbarkeit erzeugt Hass? Wie meinen Sie das?
Es ist noch nie im Verlauf der Weltgeschichte so viel Geld, also geronnene menschliche Arbeit, von A nach B transportiert worden wie zwischen West-Deutschland und Ost-Deutschland. Das erzeugt im Osten ein Missbehagen, ein Unglücklich-Sein und Sich-übervorteilt-Fühlen. In diesem Zusammenhang sehe ich das ganze AfD-Elend. Das sind keine Nazis, das ist viel schlimmer noch: Das sind Leute, die das Gute schlecht reden müssen. Wie Brecht sagte: Den übertriebenen Hoffnungen folgt leicht die übertriebene Hoffnungslosigkeit.
Sie sehen die AfD vor allem als Ost-Phänomen?
Dort wird sie sich vor allem verbreiten, aber es gibt sie auch im Westen, wo man eher das Problem hat zu glauben, dass man zu viel weggeben musste. Sie sehen, Osten und Westen sind wie durch kommunizierende Röhren miteinander verbunden. Die menschliche Dummheit ist gerecht auf Ost und West verteilt. Die hysterische Existenzangst ist besonders obszön in einem Land, das so reich ist wie Deutschland. Wir könnten zehn Mal so viele Flüchtlinge durchfüttern. Das muss man erst einmal ganz nüchtern konstatieren. Man kann dann immer noch darüber streiten, was das kulturell und seelisch und sprachlich und sexuell bedeutet. Mir kommt diese ganze Hysterie gegen Merkels Flüchtlingspolitik würdelos vor.
Berliner Zeitung vom 08.10.2016